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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen
Autoren: Carrie Ryan
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    M eine Mutter hat mir immer vom Meer erzählt. Es gibt einen Ort, sagte sie, an dem – so weit das Auge reicht – nur Wasser ist. Und es bewegt sich ständig. Es eilt auf dich zu, dann zieht es sich wieder zurück. Einmal hat sie mir ein Bild gezeigt, sie hat gesagt, das sei meine Urururgroßmutter als Kind, die da im Meer stehe. Das ist Jahre her und das Bild ist schon vor langer Zeit in den Flammen verloren gegangen, aber ich erinnere mich daran, verblasst und abgegriffen ist es gewesen. Ein kleines Mädchen umgeben vom Nichts.
    In den Geschichten meiner Mutter, die alle von ihrer Vielfach-Urgroßmutter stammten, hatte das Meer einen Klang wie Wind in den Bäumen – und Männer ritten auf dem Wasser. Einmal, ich war schon älter und unser Dorf litt unter einer Dürre, habe ich meine Mutter gefragt, wie es angehen konnte, dass unsere Flüsse in manchen Jahren beinahe austrockneten, wenn es so viel Wasser gab. Sie hat mir gesagt, das Meer sei nicht zum Trinken da, das Wasser sei voller Salz.
    Da habe ich aufgehört, ihr die Geschichten vom Meer zu glauben.

    So viel Salz konnte es doch im Universum nicht geben! Gott würde doch niemals zulassen, dass so viel Wasser verdorben wurde.
    Aber es gibt Zeiten, in denen ich am Rand des Waldes der tausend Augen stehe, in die sich endlos ausdehnende Wildnis hinausschaue und mich frage, wie es wäre, wenn das alles Wasser wäre. Ich schließe die Augen und lausche dem Wind in den Bäumen und stelle mir eine Welt aus nichts als Wasser vor, das über meinem Kopf zusammenschlägt.
    Es wäre eine Welt ohne die Ungeweihten, eine Welt ohne den Wald der tausend Augen.
    Häufig steht meine Mutter neben mir. Eine Hand über den Augen, mit der sie die Sonne abschirmt, schaut sie über die Zäune hinweg in Bäume und Gestrüpp und wartet auf die Heimkehr ihres Mannes.
    Sie lebt als Einzige in dem Glauben, er habe sich nicht gewandelt und könnte als der Mann zurückkommen, der er war, als er wegging. Ich habe meinen Vater schon vor Monaten aufgegeben und den Schmerz über seinen Verlust so tief wie nur möglich begraben, damit ich das tägliche Leben weiterführen konnte. Jetzt fürchte ich mich manchmal davor, an den Waldrand zu kommen und hinter den Zaun zu schauen. Ich fürchte mich davor, ihn dort mit den anderen zu sehen: zerfetzte Kleider, schlaffe Haut, das schreckliche, bettelnde Stöhnen – und Finger, die vom Zerren an den Drahtzäunen wund sind.
    Niemand hat ihn gesehen, das gibt meiner Mutter Hoffnung. Jeden Abend betet sie zu Gott,Vater möge irgendwo
im dichten Wald Sicherheit gefunden haben, einen Zufluchtsort, der so ähnlich ist wie unser Dorf. Aber niemand sonst hat Hoffnung. Die Schwestern sagen, unser Dorf ist das einzige, das es noch gibt auf der Welt.
    Mein Bruder Jed hat sich freiwillig zu Sonderschichten der Wächterpatrouillen gemeldet, die den Zaun überwachen. Genau wie ich glaubt er, dass wir unseren Vater an die Ungeweihten verloren haben. Ich weiß das. Er hofft, ihn während einer seiner Patrouillen zu finden und zu töten, ehe meine Mutter sieht, was aus ihrem Mann geworden ist.
    In unserem Dorf sind Leute verrückt geworden, die ihre Lieben als Ungeweihte gesehen haben. Eine Frau, eine Mutter, war so entsetzt über den Anblick ihres Sohnes, der sich auf einem Patrouillengang angesteckt hatte, dass sie sich selbst angezündet hat. Unser halbes Dorf hat sie niedergebrannt, damals, als ich noch ein Kind war. Das war das Feuer, in dem die Erbstücke meiner Familie zerstört wurden, das Feuer, das unsere einzige Verbindung zu den Menschen ausgelöscht hat, die wir vor der Rückkehr gewesen sind. Allerdings waren die meisten Dinge damals schon so alt und verwittert, dass sie nur noch Trugbilder der Erinnerung bargen.
    Jed und ich beobachten unsere Mutter jetzt ganz genau, sie darf sich dem Zaun nie mehr unbegleitet nähern. Jeds Frau Beth hat sich unserer Wache ab und zu angeschlossen, bis ihr Bettruhe verordnet worden ist, weil sie ihr erstes Kind erwartet. Jetzt sind Jed und ich ganz allein.

    Und dann eines Tages, als ich unsere Wäsche in dem Bach spüle, der vom großen Fluss abzweigt, kommt Beths Bruder zu mir. Solange ich zurückdenken kann, bin ich schon mit Harold befreundet, er ist einer der wenigen Gleichaltrigen im Dorf. Er reicht mir eine Handvoll Wiesenblumen und nimmt mir dafür meine tropfenden Laken ab, und wir schauen zu, wie das Wasser über die Felsen strömt, während er die Laken umständlich auswringt.
    »Wie geht es deiner
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