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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen
Autoren: Carrie Ryan
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nur Futter für die Ungeweihten, die ihm das Fleisch herunterreißen und es essen, bis nichts mehr übrig ist.
    Aber es ist auch zu gefährlich, den Infizierten im Dorf zu behalten. Die Wächter wollen das Risiko nicht eingehen, dass es unter den Lebenden zu einer Rückkehr kommt, und niemand kann mit Sicherheit sagen, wann bei einem Infizierten Tod und Rückkehr eintreten. Das ist davon abhängig, wie tief der Biss war. Bei einem kleinen, oberflächlichen Biss kann es Tage dauern, bis die Infektion sich ausgebreitet hat und zum Tode führt, ein brutaler Angriff dagegen kann schon nach einigen Herzschlägen zur Rückkehr führen.
    Aus diesem Grund haben die Wächter eine komplizierte Anlage aus Toren und Zugbrücken entwickelt, die die Infizierten in einer Art Fegefeuer zwischen den Lebenden und den Ungeweihten festhält. Und dort ist meine Mutter jetzt. Während die Infektion in ihrem Körper lodert, sitze ich ganz in der Nähe und lausche, wie ihre Kiefer knacken und die Zähne klappern, beinahe wie bei einer Katze, die es auf einen Vogel abgesehen hat. Jetzt ist sie zu krank zum Reden, zu mitgenommen, um überhaupt noch etwas zu verstehen.
    Ihr linkes Fußgelenk ist mit einem Strick gefesselt, gedankenverloren zupft sie an seinem ausgefransten Ende. Wir alle warten auf das Unvermeidliche, wissen aber, dass es, der Wunde nach zu urteilen, noch mindestens einen Tag dauern wird.

    Die Rückkehr überkommt die Infizierten nicht immer schnell.
    Ich bin bei ihr – auf der sicheren Seite des Zauns. Doch ich bin nicht allein, denn sie fürchten, dass man mir nicht trauen kann, dass ich etwas Furchtbares und Törichtes tue, wenn ich meine Mutter als Ungeweihte sehe und zum Beispiel sämtliche Tore aufreiße und einen Durchbruch verursache. Ein Wächter, ein Freund meines Bruders, ist abgestellt worden, um auf mich und meine Mutter aufzupassen. Er wird es sein, der die Tore bedient, und er wird es sein, der mich tötet, falls ich ihr nach der Rückkehr zu nahe komme. So lautet die Vereinbarung, die ich mit den Schwestern eingegangen bin, damit ich in dieser Zeit bei meiner Mutter bleiben kann. Ich darf bei ihr sein, aber wenn ich gebissen werde, wird man mich unverzüglich töten.
    Ich habe die Knie angezogen und die Arme um die Schienbeine geschlungen. Meine Füße spüre ich nicht mehr, ganz so, als würde das Blut sich weigern, sich so weit von meinem Herzen zu entfernen.
    Ich warte darauf, dass meine Mutter stirbt.
    Die Zeit bedeutet nichts anderes mehr für mich als das Herannahen der Rückkehr. Ich wünschte, Zeit wäre etwas Greifbares, etwas, das ich packen, schütteln und anhalten könnte. Stattdessen entgleitet sie mir, der Tag nimmt seinen Lauf. Leute aus dem Dorf kommen, um mich zu trösten, aber sie wissen nicht, was sie sagen sollen. Die Frau meines Bruders, Beth, lässt ausrichten, dass sie für uns betet, aber die Schwestern erlauben ihr nicht, dass Bett zu verlassen, aus Angst, sie könnte das Kind verlieren.

    Ich habe Harry in einiger Entfernung stehen sehen, die erbarmungslose Nachmittagssonne blendet ihn. Ich bin froh, dass er sich mir nicht nähert, nicht versucht, mit mir über diesen Morgen zu sprechen, an dem er unter Wasser meine Hand genommen und mich davon abgehalten hat, bei meiner Mutter zu sein.
    Ob er wohl immer noch glaubt, dass wir nächste Woche zusammen zum Erntefest gehen? Abgesagt wird es nicht, nicht mal angesichts des Todes meiner Mutter. Denn daran erinnern die Schwestern uns immer wieder: So ist das nun einmal nach der Rückkehr, das Leben muss weitergehen. Das ist der Lauf der Dinge, mit dem wir uns abzufinden haben.
    Bei Sonnenuntergang bringt Cassandra mir etwas zu essen und setzt sich zu mir. Es ist ein schmerzlich schöner Sonnenuntergang, dessen Farben Cass’ blasses Gesicht und helles Haar zum Leuchten bringen. Der Wächter hält an diesem Abend Abstand, denn er weiß, dass das Ende nah sein muss. Ich schwanke zwischen der Hoffnung, meine Mutter möge sich schnell wandeln und die Qualen bald hinter sich haben, und der Befürchtung, die Wandlung könnte allzu schnell eintreten. Dann ist sie für mich auf ewig verloren.
    Nach einiger Zeit sage ich: »Cass, glaubst du an das Meer? Glaubst du, dass es immer noch da draußen ist?« Ich beobachte, wie das Licht auf den Wipfeln des Waldes spielt, wie alles wogt.
    »Sag mir doch noch mal, was deine Mutter immer über das Meer erzählt hat«, bittet sie. Ihre Stimme klingt sanft und freundlich.

    »Nichts als Wasser«, erinnere ich
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