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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen
Autoren: Carrie Ryan
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sie. Cass hat mich immer gewähren lassen, hat immer zugehört, wenn ich die Geschichten vom Leben vor der Rückkehr nacherzählt habe, die von den Frauen in meiner Familie von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Einmal hat ihre Mutter ihr untersagt, mit mir zu reden, weil sie meinte, ich stopfe Cass den Kopf mit Lügen und Gotteslästerung voll. Aber unser Dorf ist zu klein, so ein Verbot könnte niemals durchgesetzt werden.
    »Mir will einfach nicht in den Kopf, wie es so viel Wasser auf der Welt geben soll, Mary«, sagt sie. Das hat sie schon oft zu mir gesagt. Ihre Augen glänzen, als sie sich vom Sonnenuntergang abwendet und mich anschaut. »Ich kann mir da draußen keinen Ort ohne Ungeweihte vorstellen.« Sie zieht die Augenbrauen zusammen. »Denn dann wären wir doch wohl dort und nicht hier.«
    In ihrem Augenwinkel sammelt sich eine Träne, in der die sinkende Sonne glitzert, ehe sie größer wird und ihre Wange hinunterläuft. Den Anblick meiner Mutter in ihrem Käfig erträgt sie nicht. Ich ziehe Cass an mich, sie darf ihren Kopf in meinen Schoß legen und den Blick vom Wald abwenden. Ich streichele ihr Haar, so wie meine Mutter immer meines gestreichelt hat. Wir beobachten, wie im Dorf die Laternen angehen. Meine Mutter hat mir erzählt, als sie ein Kind war, haben die Schwestern am Weihnachtsabend immer den alten Generator angeworfen. Das ist eine der Geschichten, die ich nie mit meiner Freundin geteilt habe, und ich spiele mit dem Gedanken,
Cass davon zu erzählen, wie dieses kleine Dorf ein Mal im Jahr den Himmel überstrahlt hat.
    Aber sie schnieft jetzt, das Weinen ist vorüber, und ich will ihr heute Abend nicht noch mehr Hirngespinste in den Kopf setzen.
    Als sie geht, bittet sie mich, mit ihr zu kommen. Aber ich kann nicht. Ich sage ihr, dass ich da sein muss, wenn es passiert, und sie schlägt die Hand vor den Mund, als ob das Grauen zu viel für sie ist, und dann rennt sie zurück in die Sicherheit des Dorfes.
    Ich möchte mit ihr laufen, von hier flüchten und diesen Tag vergessen. Aber ich bleibe, meine Hände zittern, und die Luft ist so dick, dass sie mir in der Kehle stecken bleibt. Ich muss mich dem stellen, was aus meiner Mutter wird. Das bin ich ihr schuldig nach diesem Morgen, an dem ich sie allein umherirren ließ.
    Ich starre wieder den Zaun an. Beobachte, wie das Licht den Himmel hinuntergleitet und wirre Schattenmuster auf den Boden vor meinen Füßen wirft. Ich kneife die Augen zusammen und meine Umgebung verschwimmt. Wenn ich das mache, existiert der Zaun nicht mehr. Es ist, als gehörten wir alle zu einer Welt.

    »Mutter?«, flüstere ich bei Tagesanbruch. In der vergangenen Nacht war Neumond, die letzten Stunden habe ich in Dunkelheit verbracht, dem Rascheln der Blätter hinter dem Zaun gelauscht und mir die schlimmsten Szenarien
ausgemalt. Jedes Knarren, das ich gehört habe, war ein Brechen des Zaunes, jedes Kratzen waren die Ungeweihten, die endlich eine Schwachstelle im Metall gefunden hatten.
    Jetzt ist die Luft grau und feucht. Auf allen vieren krieche ich näher an den Käfig heran, in dem meine Mutter gefangen ist. Sie ist da, in der Mitte, auf dem Boden, und sie ist so still, dass ich einen Augenblick lang glaube, sie sei tot und kehre nun zurück. Galle und panische Angst steigen mir die Kehle hoch, bleiben dort aber stecken. Ich habe das Bedürfnis zu schreien, aber ich bin absolut stumm mit offenem Mund und gefletschten Zähnen. Meine Beine verheddern sich in den Röcken, ich kralle mich in den Boden und habe den Zaun schon fast erreicht, als ich den Wächter hinter mir höre. Ich drehe mich zu ihm um und will ihn erweichen. »Sie lebt noch«, sage ich, denn ich weiß einfach, dass es so ist. Er schaut über seine Schulter in den Nebel, und als er sieht, dass wir allein sind, nickt er. Und ich flechte meine Finger in das dünne rostige Metall des Zaunes und spüre, wie die kalten, scharfen Kanten in meine Handflächen schneiden.
    »Das Meer«, murmelt meine Mutter. Ihr Kopf schnellt herum, und ich sehe, dass ihre Augen weit aufgerissen sind, der Blick ist verschwommen, aber nicht irre. Sie kriecht auf mich zu, bis unsere Hände sich durch den Zaun hindurch verbinden.
    »Das Meer, Mary, das Meer!« Jetzt spricht sie sehr eindringlich, ihr Mund bewegt sich schnell. Ich habe Angst, der Wächter könnte glauben, sie habe sich bereits
gewandelt, und mich dann töten, aber ich kann meine Hände nicht zurückziehen, der Griff meiner Mutter ist zu fest.
    »So
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