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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen
Autoren: Carrie Ryan
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selten benutzt, dass sie anfangs krächzt und winselt und dann in voller Lautstärke losheult.
    Harry schaut mir in die Augen, sein Gesicht ist jetzt nur noch einen Hauch von mir entfernt.
    »War für heute eine Übung angesetzt?«, frage ich.
    Er schüttelt den Kopf – bestimmt sind meine Augen genauso weit aufgerissen wie seine. Sein Vater ist der Anführer der Wächter, er würde Bescheid wissen, wenn es Übungen gäbe. Ich stehe auf, bereit, ins Dorf zurückzurennen. Jeder Quadratzentimeter meiner Haut kribbelt, mein Herz krampft sich schmerzhaft zusammen. Und ich denke nur: Mutter.
    Harry packt meinen Arm und hält mich zurück. »Wir sollten hierbleiben«, sagt er. »Das ist sicherer. Was, wenn die Zäune durchbrochen wurden? Wir müssen uns eine Plattform suchen.« Ich kann die Panik in seinen Augen auflodern sehen. Seine Finger bohren sich in mein Handgelenk,
krallen sich schon beinahe an mir fest, aber ich wehre ihn ab, schubse seine Hände und seinen Körper von mir, bis ich mich befreit habe.
    Ich hetze den Hügel hoch, halte auf die Mitte unseres Dorfes zu, den gewundenen Pfad ignoriere ich, stattdessen suche ich mir Äste und Ranken, an denen ich mich den steilen Hang hinaufziehe. Als ich die Kuppe erreiche, schaue ich mich um. Harry steht immer noch unten am Wasser. Er hat die Hände vors Gesicht geschlagen, so als könne er nicht mit ansehen, was hier oben geschieht. Sein Mund bewegt sich, anscheinend ruft er mir etwas zu, aber ich höre nur die Sirene, das Geräusch brennt sich in meine Ohren und hüllt mich in sein Echo.
    Mein ganzes Leben bin ich auf diese Sirene abgerichtet worden. Ehe ich laufen konnte, wusste ich schon, dass die Sirene Tod bedeutet. Dass irgendwo die Zäune durchbrochen worden sind und die Ungeweihten unter uns umherwanken. Dass man sich bewaffnen, auf die Plattformen steigen und die Leiter hochziehen muss – selbst wenn dabei Lebende zurückbleiben.
    Als ich heranwuchs, hat meine Mutter mir immer wieder davon erzählt, wie diese Sirene am Anfang, als ihre eigene Urururgroßmutter ein Kind war, beinahe ständig geheult hat, weil das Dorf unablässig von Ungeweihten überrannt wurde. Aber dann wurden die Zäune verstärkt, die Wächter schlossen sich zusammen und die Zahl der Ungeweihten ging so weit zurück, dass ich mich nicht erinnern kann, wann die Sirene in den letzten Jahren jemals aus anderen Gründen als zu Übungszwecken ertönt
wäre. Ich weiß, dass es seit meiner Geburt Durchbrüche gegeben hat, aber ich weiß auch, dass ich ein ausgesprochenes Talent dafür habe, alle Erinnerungen auszublenden, die mir nichts bringen. Auch ohne sie kann ich mich bestens vor den Ungeweihten fürchten.
    Je weiter ich mich dem Dorf nähere, desto langsamer bewege ich mich vorwärts. Ich kann sehen, dass die Plattformen in den Bäumen voll sind. Einige haben die Leitern sogar schon hochgezogen. Überall um mich herum herrscht Chaos. Mütter zerren Kinder hinter sich her, Gegenstände des täglichen Lebens liegen im Sand und Gras verstreut.
    Und dann bricht das Sirenengeheul ab, Stille breitet sich aus und alle erstarren. Ein Baby jammert weiter, eine Wolke zieht an der Sonne vorbei. Und ich sehe, wie eine Gruppe von Wächtern jemanden zum Münster schleift.
    »Mutter«, flüstere ich, und in mir bricht alles zusammen. Denn irgendwie weiß ich es. Ich weiß, ich hätte nicht mit Harry am Bach bleiben dürfen, ich hätte ihn nicht meine Hand halten lassen dürfen, während meine Mutter darauf wartete, dass ich sie zum Zaun begleite.
    Mein Rücken ist kerzengerade, als ich auf den Eingang des Münsters zugehe, eines alten Gebäudes aus Stein, das lange vor der Rückkehr erbaut worden ist. Die dicke Holztür steht offen. Meine Nachbarn machen mir Platz, als sie mich näherkommen sehen, aber keiner mag mir in die Augen schauen. Am Rand der Menge höre ich jemanden murmeln. »Sie war zu nah am Zaun. Sie hat zugelassen, dass einer sie packt.«

    Im Münster drinnen ist es, als hätten die Steinmauern die Hitze des Tages aufgesaugt, ich habe Gänsehaut an den Armen. Das Licht ist schummrig. Die Schwestern umringen eine Frau, die jammert und stöhnt, doch nicht wie die Ungeweihten. Meine Mutter hat immer darauf geachtet, nicht zu nah heranzugehen an die Zäune – und an die Ungeweihten. Zu viele haben wir in unserem Dorf auf diese Weise verloren. Sie muss meinen Vater am Zaun entdeckt haben. Ich schließe die Augen, denn der vor einer Weile noch gedämpfte Schmerz über seinen Verlust
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