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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen
Autoren: Carrie Ryan
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Mutter?«, fragt er mich, denn höflich ist er.
    Ich senke den Kopf und wasche mir die Hände im Wasser. Ich weiß, ich sollte mich auf den Weg zu ihr machen, ich habe mir heute schon zu viel Zeit gelassen. Wahrscheinlich geht sie auf und ab und wartet auf mich. Jed ist zu einem langen Patrouillegang aufgebrochen, er überprüft, wie stark die Zäune sind, und meine Mutter verbringt ihre Nachmittage gern in der Nähe des Waldes, wo sie nach meinem Vater Ausschau hält. Ich muss bei ihr sein, damit ich sie notfalls trösten kann. Und um sie vom Zaun fernzuhalten, falls sie ihn findet. »Sie macht sich immer noch Hoffnung«, sage ich.
    Harry seufzt mitfühlend.Wir wissen beide, dass es kaum Hoffnung gibt.
    Er tastet im Wasser nach meinen Händen. Seit Monaten weiß ich schon, dass es so kommen wird. Ich habe bemerkt, wie er mich jetzt anschaut, wie sein Blick sich verändert hat. Wie sich Spannungen in unsere Freundschaft eingeschlichen haben.Wir sind keine Kinder mehr, schon Jahre nicht.

    »Mary, ich …« Er hält einen Moment inne. »Ich hatte gehofft, dass du am nächsten Wochenende mit mir zum Erntefest gehst.«
    Ich schaue auf unsere Hände im Wasser. Meine Fingerspitzen werden in der Kälte schrumpelig und seine Haut fühlt sich weich und fleischig an. Ich denke über sein Angebot nach. Das Erntefest im Herbst ist die Zeit im Jahr, zu der Leute im heiratsfähigen Alter einander Anträge machen. Es ist der Beginn der Werbung, während derer das Paar über die kurzen Wintertage herausfindet, ob es zusammenpasst. Fast immer endet eine Werbung im Frühling mit Bredenlow, der eine Woche andauernden Feier von Ehegelöbnissen und Taufen. Äußerst selten scheitert eine Werbung. In unserem Dorf geht es bei der Ehe nicht um Liebe, es geht um Verpflichtung.
    Jedes Jahr staune ich, wie sich um mich herum Paare bilden. Wie meine Freunde aus der Kindheit plötzlich Partner finden, wie sie sich zusammentun und auf den nächsten Schritt vorbereiten.Wie sie sich einander versprechen und mit der Werbung beginnen. Ich war immer davon überzeugt, mir würde es genauso gehen, wenn ich so weit wäre.Wegen der Krankheit, die so viele ausgelöscht hat, als ich noch ein Kind war, schien es umso wichtiger, dass diejenigen von uns, die das heiratsfähige Alter erreichten, einen Partner fanden. So wichtig, dass für ein Leben bei den Schwestern nicht genug Mädchen blieben.
    Ich hatte sogar gehofft, vielleicht zu den Glücklichen zu gehören, die – wie meine Eltern – mehr als nur einen Partner, sondern am Ende sogar die Liebe finden.

    Aber obwohl ich in den letzten zwei Jahren zu den wenigen Vermählbaren gehörte, bin ich nicht erwählt worden.
    In den letzten Wochen habe ich versucht zu verarbeiten, dass mein Vater hinter den Zäunen geblieben ist – und ich habe versucht, mit der Verzweiflung und Trostlosigkeit meiner Mutter klarzukommen, mit meinem eigenen Kummer und meiner Trauer. Bis zu diesem Augenblick ist mir nie auch nur in den Sinn gekommen, ich könnte die Letzte sein, die zum Erntefest gebeten wird – oder gar nicht gefragt werden.
    Ein Teil von mir kann nicht umhin, an Harrys jüngeren Bruder Travis zu denken. Den ganzen Sommer lang habe ich versucht, seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Aus seiner Freundschaft habe ich mehr machen wollen. Aber er hat auf mein verstecktes, unbeholfenes Flirten nicht reagiert.
    Als habe er meine Gedanken gelesen, sagt Harry: »Travis geht mit Cassandra«, und ich kann nicht anders, ich empfinde Missgunst und Wut und eine große Leere, weil meiner besten Freundin gelungen ist, was ich nicht geschafft habe.Weil sie Travis’ Interesse geweckt hat und ich nicht.
    Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich denke an die Art, wie sich die Sonne über Travis’ Gesicht schiebt, wenn er lächelt, und ich schaue in Harrys Augen, um bei ihm denselben Wechsel des Lichts zu sehen. Immerhin sind sie Brüder, kaum ein Jahr auseinander. Aber da ist nichts, nur das Gefühl von seinem Fleisch auf meinem unter Wasser.
    Anstelle einer Antwort lächele ich ein bisschen, erleichtert,
weil endlich jemand für mich gesprochen hat. Doch könnte während der dunklen Wintermonate der Werbung aus unserer lebenslangen Freundschaft mehr werden? Ich zweifele daran.

    Harry grinst. Er neigt den Kopf zu mir, und mein einziger Gedanke ist, dass ich meinen ersten Kuss nie von Harry bekommen wollte. Und dann, ehe seine Lippen auf meine treffen können, hören wir sie.
    Die Sirene. Sie ist so alt und wird derzeit so
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