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Die Einsamkeit des Barista

Die Einsamkeit des Barista

Titel: Die Einsamkeit des Barista
Autoren: Marco Malvaldi
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nachdem er, ebenfalls infolge der Krise, sein eigenes Geld verloren hatte.
    Folglich hätte der Notar ein Motiv haben können: Ihrer Schwester, falls sie wieder gesund geworden wäre, nicht erklären zu müssen, wo ihre Erbschaft abgeblieben war.
    Doch all diese Vermutungen waren nichts als Hirngespinste; plausibel zwar, aber durch die Fakten widerlegt. Denn der Treuhandfonds, in den der Notar Fabbricottis Schenkung eingezahlt hat, erfreut sich bester Gesundheit, wovon ich mich mit eigenen Augen überzeugen konnte. Folglich hat auch der Notar kein Motiv. Und was die Gelegenheit betrifft, so musste man Zugang zu einer nur schwer zugänglichen Krankenhausabteilung bekommen können, ohne bemerkt zu werden. Nicht einfach.
    Um nicht aufzufallen, muss man, an welchem Ort auch immer, Teil des gewöhnlichen Ablaufs sein. Wenn man also in einem Krankenhaus nicht auffallen will, muss man Arzt sein oder Krankenschwester oder Krankenträger. Jemand in weißem oder grünem Kittel. Aber es gibt noch eine andere Tracht, die in einem Krankenhaus keine Aufmerksamkeit erregt. Die Mönchskutte.
    Als ich am Blinddarm operiert wurde, kam am Abend immer ein alter Pater vorbei, um zu hören, ob die kleinen Patienten mit jemandem reden wollten oder ob ihnen ein Segen guttun würde. Es war ein zahnloser und nervtötender Alter, und jedes Mal, wenn er hereinkam, griff ich mir unter der Decke ganz ungeniert an die Eier, in der Hoffnung, dass er es merken und nicht mehr wiederkommen würde. Aber ich habe mich informiert: Wie es aussieht, sind immer noch Geistliche in den Krankenhäusern, und hin und wieder kommt einer von ihnen vorbei, um den Kranken Trost zu spenden.
    Die Möglichkeit, dass Sie es gewesen sein könnten, ist mir eingefallen, als ich Billard gespielt habe und einen filotto stoßen musste. Ein filotto ist ein Angriffsstoß, destruktiv, aber er bringt viele Punkte. Allerdings kann man ihn nur unter ganz bestimmten Umständen ausführen, die umso präziser eintreffen müssen, je ungeübter der Spieler ist. Nun bin ich ein ungeübter Spieler und versuche so gut wie nie einen filotto. Aber in dem Fall war es gerechtfertigt, genau diesen Stoß auszuführen.
    Und da ist mir die Idee gekommen, dass Ihnen die gleiche Idee gekommen sein könnte.
    Sie sind ein Mensch, der keiner Fliege etwas zuleide tun würde; und der einzige Grund, aus dem Sie jemanden ermorden würden, wäre, um ihm Leiden zu ersparen. Nicht aus Niedertracht, sondern aus menschlichem Erbarmen. Daher war das Motiv etwas, das sich als Folge des Unfalls ergeben hat: Aber die Folge war nicht finanzieller Art. (Es ist schon seltsam, wie sehr die Umgebung unser Denken prägt: In dieser Scheißwelt sind wir inzwischen ja schon gewohnt, Geld als Beweggrund für fast alles anzusehen.) Die Folge war hingegen menschlicher Art: Ihre Schwester hätte irreversible Schäden davongetragen.
    Ich erspare Ihnen die Einzelheiten; aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Sie, als Ihnen klar wurde, welche Zukunft Ihre Schwester erwartete, gehandelt haben.
    Sie haben es nicht getan, um sich persönlich zu bereichern, das weiß ich; Sie haben in Malawi eine Stiftung für den Bau von Toiletten gegründet, die sie mit den Geldern aus dem Erbe eröffnet haben, und sie dann einer seriösen Sozietät zur Verwaltung übergeben.
    Ich frage mich und ich frage Sie, ob das Geld nicht doch ins Gewicht fiel: ob der Anblick dieser ganzen Gelder, die unnütz und unbrauchbar bei ihrer Schwester lagen, und der Zorn, sie nicht für etwas Gutes einsetzen zu können, nicht doch als Katalysator für das fungiert haben, wovon ich glaube, dass Sie es getan haben. Wenn es so gewesen ist, so sollen Sie, falls das hilft, wissen, dass ich weder urteilen will noch kann. Und ich will auch nicht, dass andere es tun; was mich betrifft, so gelingt es mir nicht, das, was Sie getan haben, als Verbrechen zu betrachten.
    Ich bitte Sie aber inständig, mir aufrichtig auf diesen Brief zu antworten. Ganz egal, ob ich recht oder unrecht habe. Ich habe keine Beweise gegen Sie, wie ich Ihnen gesagt habe und wie Sie wissen werden; und der einzige Weg, zu erfahren, ob ich recht habe, besteht darin, dass Sie es mir bestätigen.
    Herzlich
    Massimo Viviani

Epilog
    Nachdem er den Wagen geparkt hatte, stieg Massimo aus und betrachtete einen Moment lang den kleinen weißen Ballon, der so neckisch an der Autoantenne befestigt war. Er überlegte, ob er ihn abmachen sollte oder nicht. Nach einem Augenblick band er ihn los und wickelte sich
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