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Forellenquintett

Titel: Forellenquintett
Autoren: Ulrich Ritzel
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Dienstag, 27. September
    A us dem Schatten, den die Morgensonne in die Häuserschluchten warf, rollte eine blaue Tramwaj, ruckte über eine Weiche und nahm wieder Fahrt auf. Dem Mann, der mit einer Plastiktüte in der einen Hand stehen geblieben war und mit der anderen die Augen abschirmte, kam es so vor, als liefen die Waggons auf ungewöhnlich kleinen Rädern, wie Raupenfahrzeuge, die enge Kurven und steile Rampen überwinden müssen. Die Haltestelle war nur fünfzig Meter entfernt. Wenn er sich beeilte, würde er sie noch rechtzeitig erreichen und mitfahren können, vielleicht bis zur Endstation, irgendwo da draußen zwischen Abraumhalden und Schrottplätzen müsste eine geeignete Stelle zu finden sein.
    Aber er wollte nicht rennen. Nicht mit der Plastiktüte und dem Ding darin, das ihm gegen die Beine schlagen würde. Außerdem hatte er kein Bilet. Soviel er wusste, hätte er sich vorher eins in einem Tabak- oder Zeitungsladen kaufen müssen. Die Straßenbahn hielt, ein paar Leute stiegen aus, darunter zwei Frauen, die nun auf ihn zukamen, mit kleinen energischen Schritten, und als sie an ihm vorbei waren, folgte ihnen der Mann, weil es offenkundig einen vernünftigen und unverdächtigen Grund gab, diese Richtung zu nehmen.
    In der Nacht hatte es geregnet, und noch immer roch es, als sei ein Teil des Staubs und der Abgase aus der Luft herausgewaschen. Zumindest schienen die Bewohner der Stadt es so zu empfinden, denn sie hatten ihre altersschwarzen Wohnblocks verlassen, überall sah er Leute, alte und junge, gebrechliche, gleichgültige oder solche, deren Gesicht Misstrauen verbergen mochte.
    Es ist lächerlich, dachte der Mann, dem die Plastikträger in die Hand schnitten, aber seit dem Frühstück war er unterwegs und hatte nirgendwo einen Platz gefunden, an dem er es gewagt hätte, die Tüte abzustellen. Dabei war es eine Tüte wie hunderttausend andere auch, von einer Hamburger-Kette ausgegeben, deren gelbroter Schriftzug deutlich zu sehen war, ziemlich genau an der Stelle, an der sich die Plastikfolie über einer Wölbung spannte. Vor einer halben Stunde noch hatte er sich damit getröstet, wie komisch es sein würde, wenn er von seiner Irrfahrt erzählen könnte, seiner Odyssee durch die staubigen, von Schlaglöchern übersäten Straßen der Stadt, auf der Suche nach einer Ruine, von denen es doch genug geben musste, oder auch nur nach einem abseits gelegenen Müllbehälter, und wie er sich dabei immer genauer, immer hartnäckiger beobachtet fühlte, bis er schließlich begriff, dass es nicht allein die Menschen auf der Straße waren, denen er sich ausgeliefert fühlte.
    Wirkliche Gefahr droht von dem, den man nicht sieht, der vielleicht nur aus einem Fenster späht, hinter einem Vorhang verborgen. Es gab unzählige Fenster in dieser Stadt, mit Gardinen oder bunten Vorhanglappen drapiert und dicht an dicht in die staubgrauen Mauern gestanzt, als bohrten sich hunderttausend Augen in seinen Nacken, aber wer glaubt einem das?
    Die beiden Frauen vor ihm bogen nach links ab, die ältere der beiden trug einen mausgrauen Mantel mit einem mausgrauen Pelzkrägelchen und ging etwas schneller als die andere, die jünger war und schwerfälliger, die breiten Hüften in Jeans gezwängt. Der Mann blieb etwas zurück. Vor einem Motorradladen mit schweren japanischen Maschinen waren zwei Tische und die Plastikstühle dazu auf das Trottoir gestellt, an einem der Tische saßen zwei Burschen in Lederjacken und räkelten ihre Beine über den Gehsteig, die Bierdosen vor sich, und musterten ihn, fast belustigt, als sei etwas komisch daran, wie er hinter den Frauen herlief und ihm die rot und gelb bedruckte Plastiktüte neben den Knien baumelte. Aus dem Laden dröhnte ein Lautsprecher, fast gerührt erkannte der Mann den alten Seelenfeger »Bobby Mc-Gee«, und es war wirklich und wahrhaftig die Stimme von Janis Joplin, wie schön, dass es eben auch Lieder mit Worten gab, wenn man sie nur singen konnte. Für einen Augenblick überlegte er, stehen zu bleiben und den Biertrinkern zuzunicken, wie jemand, der gerade genug Zeit hat, sich an einem guten alten Lied zu erfreuen, aber im gleichen Atemzug verscheuchte er den Gedanken wieder, dies war kein Morgen für den Austausch von Sentimentalitäten, schon gar nicht mit Leuten, die die Zeit und das Geld übrig hatten, sich vormittags vor einer Kneipe herumzudrücken.
    Nicht mit mir, dachte der Mann und ging weiter, zügig tat er das, aber nicht so schnell, dass es irgendjemandem hätte
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