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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes
Autoren: Martin Suter
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ihm den Atem ab. Blank schloß die Augen, wartete ein paar Sekunden und fing an, tief und regelmäßig zu atmen. Er konzentrierte sich auf das feine Kitzeln der kleinen Schweißbäche, die ihm aus den Poren drangen. Allmählich fing er an sich zu entspannen.
    Er verbrannte Bachminze, Baumharz und Feldthymian. Die windschiefe Hütte füllte sich mit dem Duft von Wald und Sommerwiese. Er ließ noch mehr Wasser auf den Steinen verzischen.
    Er blieb in der Hütte, bis er die Hitze nicht mehr aushielt. Dann rannte er zum Wasserfall und tauchte in das eiskalte Naturbassin.
    In der Wärme der Schwitzhütte trocknete er sich ab und zog sich warm an. Wenn alles gutging, würde er einige Stunden im Wald verbringen.
    Urs Blank faßte in seine Hemdtasche und zog einen kleinen Plastikbeutel heraus. Seinen Inhalt leerte er auf den Boden des umgedrehten Kochtopfs. Dreißig getrocknete Spitzkegelige Kahlköpfe und die beiden frischen Samthäubchen, deren lustiges Safrangelb längst zu einem gefährlichen Blau geworden war.
    Er suchte diesmal zwei mittlere und drei kleine Zwergenmützchen aus. Er hatte seit damals bestimmt fünfzehn Kilo verloren. Und die Dosierung, so erinnerte er sich, richtete sich nach dem Körpergewicht.
    Bei den Bläulingen mußte er nicht lange überlegen. Sie waren beide gleich winzig.
    Er schob die Pilze in den Mund, einen nach dem anderen, und begann zu kauen. Er schloß die Augen und rief sich die Bilder von damals in Erinnerung. Shiva, die mit ausgebreiteten Armen kaute, als befände sie sich auf dem Hochseil. Lucille, die kicherte, als er ihr zuflüsterte, Shiva kaue wie eine Ziege.
    Er erinnerte sich an den Geschmack wie nasse Socken und an die Bitterkeit, die sich verstärkte, je länger er kaute.
    Es fiel ihm wieder ein, wie er und Lucille, als sie es nicht mehr aushielten, bis zehn zählten und den Brei runterspülten.
    Diesmal zählte er bis dreißig.
    Der Kochtopf war kein schlechter Ersatz für die Schellentrommel. Er konnte darauf klopfen, und sein Bügel schlug scheppernd gegen das Aluminium, wenn er ihm den richtigen Drall gab.
    Sein Spiel begann sich zu verändern. Es kam jetzt nicht mehr nur von ihm. Es floß ihm zu. Und doch war er es, der ihm seine Form verlieh.
    Es wurde vielstimmig. Das dumpfe Klopfen auf die Topfwand, das hellere auf den Topfboden, das Scheppern des Bügels, der Widerhall in der Holzhütte. Jeder dieser Klänge machte sich selbständig. Aber jeder fügte sich ein in die Harmonie des Ganzen nach Blanks Wille.
    Blank dirigierte seine Klänge, bis der Boden kippte und er sich ins Freie retten mußte.
    Dort verschlang ihn die struppige Herbstwiese.
    In ihrem Innern war es hell.
    Er war durchsichtig.
    In ihm explodierten die Farben. Safrangelb und Zyan.
    Die Wiese spuckte ihn aus.
    Er stand auf.
    Im Wald herrschte hoher Wellengang.
    Zwei Beamte der Spurensicherung aus der Kantonshauptstadt waren im Vorratsraum beschäftigt. Die Aussagen waren protokolliert, die Liste der fehlenden Vorräte war komplett und ihr Wert auf etwas über hundert Franken festgelegt. Für Blaser gab es eigentlich nichts mehr zu tun. Aber er wollte warten, bis die Spurensicherung fertig war und die Kollegen eine erste Auswertung herausrückten.
    So saß er mit den Felders in der Küche, trank Kaffee und hörte sich immer wieder die gleichen Sätze an. »Am hellichten Tag!« und »Wenn ich den erwischt hätte« und »Als ich das von Kunz las, wie der nach Rauch gestunken hätte, mußte ich mich hinsetzen«.
    Blank saß auf einem Polster aus violettem Moos und schaute in das Kaleidoskop des Waldes.
    Farne aus Magenta schoben sich vor gelbe Fichten, schwarze Tannenstämme trugen Algenmuster aus Zyan.
    Blank löste den Wald in seine Grundfarben auf und mischte sie neu.
    Dann begann er seine Formen zu ändern. Ein Wald aus lauter bunten Würfeln, ein Wald aus Kuben, aus Zylindern, aus Tupfern, aus Schleiern.
    Ein Wald aus Menschen.
    Die Wurmfarne waren alles Dr. Fluris, Halter + Hafner waren aus Peitschenmoos, Pius Ott war eine dürre Fichte, Alfred Wenger eine ernste Tanne. In ein Wedel Rippenfarn formte er die Züge von Evelyne. Das Heidelbeerkraut wurde Lucilles Haarpracht, Joe Gasser ließ er als Fichtenstrunk modern, Geiger, von Berg und Minder wurden zu einem Brombeergestrüpp.
    Freunde, Feinde, Geliebte, Verflossene, alle, die in seinem Leben etwas bedeutet hatten, und alle, die ihm gleichgültig geblieben oder geworden waren, ließ er antanzen.
    Wenn die ernste Tanne Wenger nicht gewesen wäre –
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