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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes
Autoren: Martin Suter
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    Kein Problem«, antwortete Urs Blank freundlich und stellte sich vor, wie er Dr. Fluri ohrfeigte, »dazu bin ich schließlich da.«
    Das stimmte nicht. Blank war nicht dazu da, Fusionsverträge immer wieder neu aufzusetzen, nur weil der unbedeutendste der Vertragspartner noch ein allerletztes Mal seine Macht auskosten wollte. Dafür hatte er nicht seine Doktorarbeit geschrieben, sein bar exam in New York bestanden und jahrelang bei Geiger, von Berg & Minder die Knochenarbeit gemacht, bis sie seinen Namen endlich in den Briefkopf aufnahmen.
    Seit bald drei Wochen zogen sich die Fusionsverhandlungen hin. Es ging um den Zusammenschluß zweier Textilketten. Es war klar, daß ›Fusion‹ nur eine schonende Bezeichnung für den Kauf des Unternehmens war, das Dr. Fluri in dreiundzwanzig Jahren bis zur Übernahmereife gemanagt hatte. In wenigen Wochen würde alles, was an die ELEGANTSA erinnerte, ausgemerzt sein. Die Filialen in erster Lage, Dr. Fluris beste Karte, würden in CHARADE umbenannt sein. Darüber machte er sich so wenig Illusionen wie alle anderen Beteiligten. Ihm ging es nur darum, das Gesicht zu wahren, das Urs Blank an diesem Nachmittag so gerne geohrfeigt hätte.
    Sie saßen aus Gründen der Geheimhaltung im Hinterzimmer der Waldruhe, eines Ausflugslokals im Stadtwald. Der Anwalt von Dr. Fluri hatte den konspirativen Treffpunkt vorgeschlagen. Er schien die Verhandlungen als großes Abenteuer zu genießen und war der einzige, der sich mit Wanderkleidung getarnt hatte. Alle anderen trugen dunkle Busineßanzüge. Aber nur der von Urs Blank stammte aus der Savile Road in London. Ein Schneider dort verfügte über seine Maße.
    Die Unterzeichnung der Verträge war diesmal an der Pressemitteilung gescheitert. Dr. Fluri bestand darauf, daß ihr Wortlaut integrierender Bestandteil des Vertragstextes werde. Eine neue und ungewöhnliche Bedingung, auf die die Gegenseite erst nach langen Diskussionen eingegangen war.
    Der Verhandlungsführer von CHARADE , Hans-Rudolf Nauer, hatte sich auch diesmal Bedenkzeit ausbedungen. Für Urs Blank jedesmal ein sicheres Zeichen dafür, daß er nicht das letzte Wort hatte. Es hielt sich ein Gerücht, daß die Kriegskasse von CHARADE mit dem Geld eines stillen Teilhabers gefüllt war. Blank vermutete, mit dem von Pius Ott, einem Spekulanten, der sich in letzter Zeit auf den Textilsektor zu konzentrieren schien.
    Die Herren holten ihre Agenden hervor und einigten sich auf einen neuen Termin. Als sie vor der Waldruhe in die wartenden Taxis stiegen, beschloß Blank, zu Fuß bis zur Tramstation zu gehen.
    Der Himmel über der kahlen Waldkuppel hatte sich aufgeklärt. Zwischen den silbernen Buchenstämmen glänzte das Laub in der Nachmittagssonne. Urs Blank überlegte, wann er das letzte Mal durch einen Wald gegangen war. Er konnte sich nicht erinnern.
    Er war vor zwei Monaten fünfundvierzig geworden und galt in Fachkreisen als einer der brillantesten Wirtschaftsanwälte des Landes. Seine amerikanische Zulassung hatte ihn zum Experten für Firmenübernahmen und Fusionen mit schweizerisch-amerikanischer Beteiligung werden lassen. Einige der bedeutendsten mergers der letzten Jahre trugen seine Handschrift. Er verdiente viel Geld, und weil er wenig Zeit hatte, es auszugeben, war ihm einiges davon geblieben. Er hatte eine zum Glück kinderlos gebliebene Ehe mit Anstand hinter sich gebracht und lebte mit Evelyne Vogt zusammen, einer unabhängigen Frau, die einen Laden für Designmöbel aus den zwanziger und dreißiger Jahren besaß.
    Urs Blank hatte mehr erreicht, als er sich zu Beginn seines Jurastudiums hatte träumen lassen. Aber etwas stimmte wohl nicht in seinem Leben, wenn es einer konspirativen Fusionsverhandlung bedurfte, um ihn nach Jahren wieder einmal in den Genuß eines Waldspaziergangs zu bringen.
    Bei einem Wegweiser blieb er stehen. »Tramstation Buchenfeld 15 Min.« stand auf dem einen Pfeil. »Tramstation Obertal 25 Min.« stand auf dem anderen. Der Pfad, auf den er wies, war unter der dichten Laubdecke nur zu erahnen. Urs Blank schlug ihn ein. Er genoß das Rascheln des Laubes, durch das er watete. Und den Gedanken, was es mit seinen Schuhen anrichtete. Sie stammten aus der Jermyn Street in London. Ein Schuhmacher dort besaß seinen Leisten.
    Aus achttausend Metern Höhe sahen die kahlen Buchenwälder aus wie vertrocknete Moosflechten auf einem Stein. Aber der einzige Passagier des Learjets hatte die Rollos runtergelassen. Er schlief ausgestreckt auf seinem Sitz,
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