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Die Brueder

Die Brueder

Titel: Die Brueder
Autoren: Jan Guillou
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hatte diesen Blick. Ich gratuliere im Übrigen. Wie soll das Buch denn heißen?«
    »Eminent Victorians, Bildnisse aus der Viktorianischen Zeit.«
    »Bitte?«
    »Du hast richtig gehört.«
    »Ich vermute, dieser Titel ist ironisch gemeint?«
    Lyttons Lachen war unvergleichlich. Heiser und pfeifend.
    »Durchaus«, gab er zu. »Das ist ein ironischer Titel.«
    *
    Als es Herbst wurde, zog sich Sverre immer mehr zurück. Im Charleston Farmhouse hatte er einen Kreis großzügiger, herzlicher und künstlerischer Freunde. Sie waren die einzigen Menschen in England, die ihm etwas bedeuteten. Den Sommer über war es ein ständiges Kommen und Gehen, gelegentlich waren sie nur zu fünft oder zu sechst, hin und wieder ein Dutzend, und wenn ein seltener Gast wie Bertrand Russell erschien, der in der zweiten Augusthälfte eine Woche lang blieb, so gab es ein Fest.
    Eigentlich war dies ein ausgesprochen angenehmes Dasein, eine kleine grüne Insel der Vernunft und Liebe in einem roten Meer des Hasses. Aber Sverres Sorge um Albie wuchs stetig. Mitten im Gespräch verlor er den Faden, und der vollkommen sorglose Lebensstil bereitete ihm immer größere Mühe, denn schließlich kämpfte Albie täglich um sein Leben. Sverre war der Einzige aus dem Freundeskreis, der um jemanden bangte.
    Nachts lag er wach und malte sich abwechselnd aus, wie Albie in einem afrikanischen Sumpf an Malaria starb oder mit ausgebreiteten Armen durch die Tür trat. Er rekapitulierte ihr gemeinsames Leben, angefangen mit der Sturm-und-Drang-Zeit in Dresden über die naiven Träume von einer gemeinsamen Ingenieursfirma bis hin zu der Zeit, in der er sein Leben der Kunst und Albie seins den ererbten Verpflichtungen gewidmet hatte und alles so ganz anders gekommen war, als sie es sich zu Beginn vorgestellt hatten. Sie hatten einander verändert. Albie hatte ihn endgültig zum Künstler gemacht, und Sverre hatte, was schwerer nachzuvollziehen war, Albie zum Geschäftsmann und Kunstmäzen gemacht.
    Eigentlich war das nicht schlechter, als wenn sie beide Ingenieure geworden wären, ganz im Gegenteil. Ohne den Krieg, der sie womöglich für immer entzweite, hätte ein langes glückliches Leben vor ihnen gelegen.
    Ohne Albie hatte er kein Leben, jedenfalls war es ohne Albie nicht mehr lebenswert, ohne Albie war er verloren. Ohne Albie war alles zu spät. Er konnte nichts mehr be­reuen, nichts mehr ungeschehen machen, nicht mehr von vorn anfangen.
    Vor langer Zeit in Antwerpen, ehe sie an Bord des Postdampfers nach England gegangen waren, war die Entscheidung gefallen. Wenn er damals gezögert und der Pflicht den Vorrang vor seinen Gefühlen eingeräumt hätte, hätte er bereits vor zehn Jahren die schweren Jahre auf der Hardangervidda hinter sich gehabt. Dann würde er jetzt zusammen mit Lauritz Lauritzen & Haugen die größte Ingenieurbaufirma Bergens betreiben, und das dank des Geldes, das Oscar ausgerechnet in Afrika verdient hatte.
    Wo war der übrigens jetzt? Oscar hatte Daressalam vor der Besetzung nicht mehr verlassen können. Saß er wo­möglich in einem englischen Kriegsgefangenenlager? Oder ­hatte man ihn gar zwangsweise in die deutsche Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika eingezogen?
    Wenn er nicht gefallen war, kämpften Albie und Oscar jetzt also auf verschiedenen Seiten, und Oscar war ein außerordentlich geschickter Schütze.
    Nein, dieser Gedanke war zu furchtbar, zu schwer und außerdem zu unsinnig. Aber es quälte ihn mehr als alles andere, dass er seit dem pessimistischen, verschlüsselten Text nun schon seit Monaten nichts mehr von Albie gehört hatte.
    Sverre entzog sich seinen Freunden immer öfter und reiste für zwei oder drei Tage nach Brighton, um dort an einem Nachtbild zu arbeiten, auf dem das blaue Meer mit weißem Nebel und dem sich spiegelnden weißen Schein des Mondes sowie die geschwungene schwarze Küste mit roten und gelben Lichtpunkten zu sehen sein würde. All dies ließ sich mit einem Blick einfangen, wenn man um Mitternacht am Ende des Brighton Piers stand. Dann wurde der Pier geschlossen, und alle Menschen wurden verscheucht, um der Unzucht zahlender Männer mit Frauen oder, noch schlimmer, der Unzucht zwischen Männern mit und ohne Bezahlung Einhalt zu gebieten. So sollte ver­hindert werden, dass die Nacht für Lustbarkeiten genutzt wurde, die laut Gesetzbuch als besonders unmoralisches Verhalten einzustufen waren.
    Erst im November, als die Küste in kaltem Nebel versank, die Dämmerung immer früher hereinbrach und ab elf Uhr
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