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Die Brueder

Die Brueder

Titel: Die Brueder
Autoren: Jan Guillou
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werden. Ein größeres Problem stellte da schon der Transport der Elektrizität vom Kraftwerk zur Lok dar. Elektrische Leitungen mit Transformatorstationen gab es bereits, so weit also keine Schwierigkeiten. Wie wäre es mit einer dritten, stromführenden Eisenbahnschiene, von der die Lok ihre Kraft mithilfe eines Senkschuhs oder eines Skis an der Unterseite bezog?
    Keine gute Idee. Eine bodenläufige Stromschiene, die kreuz und quer durch England verlief, würde – einmal ganz abgesehen von dem rein metallurgischen Problem raschen Verschleißes und der Lärmbelästigung – den Tod Hunderttausender Kühe und Zehntausender Kinder zur Folge haben.
    Auf diesen vernichtenden Einwand kam Albie.
    Sverre stellte mit einem Seufzer fest, dass man wohl eine Übertragung der elektrischen Kraft durch die Luft ersinnen müsse.
    Sie ließen das Problem des Antriebs vorerst auf sich beruhen und wandten sich dem Aspekt des Lärms zu. Die Schienenstöße verursachten das unerträgliche Rattern und Dröhnen. Was könnte dagegen unternommen werden?
    Auf diesem Gebiet nun kannte sich Sverre aus. In Ländern mit großen Temperaturschwankungen, erklärte er, seien großzügige Schienenlücken vonnöten, da sich Metall, insbesondere Eisen, bei Wärme ausdehne und bei Kälte zusammenziehe. Hier habe man es mit einem unumgäng­lichen physikalischen Gesetz zu tun, es sei denn, Eisen­bahnräder ließen sich flexibler gestalten. Gold eigne sich in der Theorie, verschleiße dafür aber rasch und weise andere offensichtliche Nachteile auf. Gummiräder wie bei Automobilen würden sich noch schneller abnutzen. Aber wenn es eine Möglichkeit gäbe, dieses neue Material im Innern der Räder zu verwenden, also nicht in direktem Kontakt mit den Schienen, ließe sich das durch die Schienenstöße verursachte Rumpeln beträchtlich dämpfen. Also Gummiräder mit einem Reifen aus Stahl?
    Mit dieser Überlegung gaben sie lachend auf, der Zug näherte sich Salisbury. Jetzt hatten sie ihr neues Leben fast erreicht.
    *
    In Antwerpen vor Betreten des Postdampfers hatte Sverre ein letztes Mal gezögert. Dort, wirklich erst dort, mit Sicht auf England jenseits der Meerenge, war es ihm vorgekommen, als würde er den Rubikon überschreiten.
    Er hatte sich alle Mühe gegeben, seine Unsicherheit vor Albie zu verbergen. In Albies Nähe und wenn sie sich in die Augen sahen, fiel es ihm nicht schwer. Albies schöne, ironische, intelligente, flehende und herrische braune Augen vertrieben jegliche Zweifel. Außerdem wurde er getragen von dem berauschenden Gefühl, sich in der neuen Epoche des Friedens und der Technik zu befinden, die sie jetzt gemeinsam erobern würden und in der alles möglich war. Gemeinsam würden sie Berge versetzen, nicht nur im übertragenen Sinne, sondern notfalls sogar buchstäblich, beispielsweise beim Kanalbau.
    Dies war die eine und eindeutig ausgeprägteste Seite seiner Empfindungen.
    Was die andere Seite dafür nicht weniger quälend machte. Weil sich unmöglich schönreden ließ, dass er ein Verräter war. Er hatte Norwegen verraten, genauer gesagt die Wohltätigkeitsloge Die gute Absicht in Bergen, die sowohl ihm als auch seinen Brüdern Lauritz und Oscar eine Ausbildung finanziert hatte, die den drei vaterlosen Fischerjungen von der Osterøya sonst verschlossen geblieben wäre. Ohne die Unterstützung der Loge hätten sie ihre Lehre in Cambell Andersens Seilerei absolviert und wären mit der Zeit Seiler geworden, weder mehr noch weniger.
    Der Zufall hatte jedoch die Mitglieder des Wohltätigkeitsvereins dazu veranlasst, sie, einer Märchenfee gleich den Zauberstab schwingend, mit einer höheren Ausbildung zu segnen, was einer Erste-Klasse-Fahrkarte in die Oberschicht gleichkam. Innerhalb weniger Jahre wären sie vermögend gewesen. Die Stellen und die Gehälter, die man den drei Brüdern nach dem Examen in Dresden geboten hatte, ließen daran keinen Zweifel.
    Die Ausbildung, die ihnen geschenkt worden war, brachte aber auch Verpflichtungen mit sich, denen er sich wie ein Zechpreller entzogen hatte. Seinen Teil der Verantwortung hatte er ungefragt seinen Brüdern aufgebürdet, ein unentschuldbares Verhalten.
    Ein Gespräch mit den Brüdern wäre sicherlich nicht sehr fruchtbar verlaufen. Lauritz war ein großer Bruder, den man bewundern musste, seine eiserne Disziplin, sein besessenes Training, um Europas bester Velodrom-Rennfahrer zu werden, seine feste Entschlossenheit, der beste Diplomingenieur seines Jahrgangs zu werden, sein
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