Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
der frühen Stunde war der Mann vollständig angekleidet, ganz nach Art eines Gentlemans; zu grauen, eng geschnittenen Hosen trug er ein weißes Hemd und einen grünen Rock. Als er dem Boten entgegentrat, stellte dieser fest, dass er leicht humpelte.
    Kein Zweifel – dies war Walter Scott, der Herr von Abbotsford.
    Obwohl der Bote Scott noch nie zuvor persönlich begegnet war, hatte er sowohl von seiner beeindruckenden Erscheinung gehört als auch von der Behinderung, die von einer Krankheit aus Kindertagen herrührte.
    Der aufgeweckte Zustand Scotts ließ vermuten, dass es stimmte, was man sich hinter vorgehaltener Hand erzählte: dass der Herr von Abbotsford kaum noch Zeit für Schlaf fand, sondern Tag und Nacht in seinem Studierzimmer weilte, um an seinen Romanen zu schreiben.
    »Sire«, sagte der Bote und verbeugte sich, als der Hausherr auf ihn zu trat. »Bitte verzeihen Sie die Störung zu so früher Stunde.«
    »Schon gut, mein Sohn«, sagte Sir Walter, und über seine groben Züge legte sich ein jungenhaftes Lächeln. »Ich war noch nicht zu Bett gegangen, und wie es aussieht, wird daraus heute wohl auch nichts mehr werden. Mein treuer Mortimer sagte, es gebe eine Nachricht für mich? Vom Sheriff von Kelso?«
    »Das ist richtig, Sire«, bejahte der Bote, »und ich bedauere, dass es keine gute Nachricht ist. Es geht um Ihren Studenten, Jonathan Milton …«
    Sir Walters Züge umspielte ein wissendes Lächeln. »Der gute Jonathan. Was ist mit ihm? Hat er über seinem Eifer mal wieder die Uhrzeit vergessen und ist zwischen alten Urkunden und Folianten eingeschlafen?« Er erwartete, dass der Bote sein Lächeln zumindest erwiderte. Das Gesicht des Mannes blieb jedoch ernst.
    »Ich fürchte, es ist schlimmer als das, Sire«, sagte er leise. »Es hat einen Unfall gegeben.«
    »Einen Unfall?« Sir Walter hob die Brauen.
    »Ja, Sire. Ein schreckliches Unglück. Euer Student – Jonathan Milton – ist tot.«
    »Er … er ist tot? Jonathan ist tot?«, hörte Sir Walter sich selbst sagen. Er hatte das Gefühl, dass ein Fremder die Worte aussprach, und konnte gar nicht glauben, was er hörte.
    Der Bote nickte betroffen. Nach einer endlos scheinenden Pause fügte er hinzu: »Es tut mir sehr Leid, dass ich Ihnen diese Nachricht überbringen muss, Sire. Aber der Sheriff wollte, dass Sie sofort darüber in Kenntnis gesetzt werden.«
    »Natürlich«, sagte Sir Walter und hatte Mühe, die Fassung zu bewahren. »Wann ist es geschehen? Und wo?«, wollte er wissen.
    »In der Bibliothek, Sire. Offenbar war der junge Herr zu später Stunde noch dort, um zu studieren. Dabei muss er von der Treppe gestürzt sein.«
    In Sir Walters Entsetzen mischten sich augenblicklich Schuldgefühle. Jonathan war in seinem Auftrag in Kelso gewesen, hatte für ihn in der alten Bibliothek recherchiert. An dem, was geschehen war, traf ihn also zumindest eine Mitschuld.
    »Ich werde sofort nach Kelso aufbrechen«, kündigte er entschlossen an.
    »Weshalb, Sire?«
    »Weil ich muss«, sagte Sir Walter hilflos. »Es ist das Wenigste, was ich für Jonathan tun kann.«
    »Tun Sie das nicht, Sire.«
    »Weshalb nicht?«
    »Der Sheriff von Kelso ist mit den Untersuchungen befasst, er wird Ihnen zu gegebener Zeit alles mitteilen. Aber … sehen Sie sich nicht die Leiche an. Der Anblick ist schrecklich, Sire. Sie sollten nicht …«
    »Unsinn«, fiel Sir Walter ihm barsch ins Wort. »Ich bin lange genug selbst Sheriff gewesen und weiß, was mich erwartet. Welch ein Lehrherr wäre ich, bräche ich jetzt nicht auf, um mich nach den Umständen von Jonathans Tod zu erkundigen?«
    »Aber Sire …«
    »Genug«, befahl Sir Walter unwirsch, und dem Boten blieb nichts übrig, als sich zu verbeugen und zurückzuziehen, auch wenn er ahnte, dass sein Auftraggeber, der Sheriff von Kelso, über Sir Walters Besuch nicht erfreut sein würde.
    Die Ortschaft Kelso lag rund 12 Meilen von Abbotsford entfernt. Der größte Teil Kelsos gehörte zum Besitz des Herzogs von Roxburghe, dessen Vorfahr rund hundert Jahre zuvor ein Schloss am Ufer des Tweed hatte errichten lassen, auf dem die Familie seither residierte. Zusammen mit den Ortschaften Selkirk und Melrose bildete Kelso ein Dreieck, das Scott gern als ›sein Land‹ bezeichnete: Hügel und Wälder, die vom ruhigen Wasser des Tweed durchflossen wurden und für ihn der Inbegriff seiner schottischen Heimat waren. Kelso schätzte er als das romantischste Dorf der Gegend, in dem noch viel vom Geist des alten Schottland
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher