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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen
Autoren: Michael Peinkofer
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ihren Zustand ausgewirkt. Die Folianten und Schriftrollen waren im Verfall begriffen; ihren Inhalt zu sichten und für die Nachwelt festzuhalten musste das Ziel eines jeden interessierten Geschichtskundlers sein.
    Aufmerksam besah Jonathan die einzelnen Seiten. Er erfuhr von Schenkungen des Adels an seine Vasallen, von Abgaben, die von den Bauern entrichtet worden waren, und er fand eine komplette Auflistung der Äbte von Melrose. Das alles war interessant, doch keineswegs sensationell.
    Plötzlich entdeckte Jonathan etwas, das seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Denn als er erneut umblätterte, änderten sich Aussehen und Form der Einträge. Was er nun vor sich hatte, war kein Brief und keine Urkunde. Tatsächlich fiel es ihm schwer, den ursprünglichen Zweck des Schriftstücks zu bestimmen, denn es erweckte den Anschein, als wäre es aus einem größeren Ganzen herausgerissen worden, möglicherweise aus einer Chronik oder aus alten Klosteraufzeichnungen.
    Kalligrafie und Duktus der mit Pinsel aufgetragenen Schriftzeichen unterschieden sich grundlegend von jenen der vorangegangenen Seiten. Auch fühlte sich das Pergament grobporiger und dünner an, was nahe legte, dass es wesentlich älteren Datums war.
    Woher mochte dieses Schriftstück stammen?
    Und weshalb hatte man es aus seinem ursprünglichen Band herausgerissen?
    Wäre einer der Mönche, die die Bibliothek verwalteten, in der Nähe gewesen, hätte Jonathan ihn danach gefragt. Zu dieser späten Stunde aber hatten sich Abt Andrew und seine Mitbrüder bereits zum Gebet und zur Klausur zurückgezogen. Die Mönche hatten sich daran gewöhnt, dass Jonathan sich tagelang in den Hinterlassenschaften der Vergangenheit vergrub. Da Sir Walter ihr volles Vertrauen genoss, hatten sie seinem Studenten einen Schlüssel überlassen, der es ihm zu jeder Zeit gestattete, die Bibliothek aufzusuchen.
    Jonathan spürte, wie seine Nackenhaare sich sträubten. Es würde also an ihm liegen, das Rätsel zu lösen, das sich so unverhofft aufgetan hatte.
    Im flackernden Schein der Kerze begann er zu lesen.
    Es fiel ihm weitaus schwerer als bei den anderen Schriftstücken – zum einen, weil die Seite in einem viel schlechteren Zustand war, zum anderen aber, weil sich der Verfasser eines sehr seltsamen, mit fremden Begriffen durchsetzten Lateins bedient hatte.
    Nach allem, was Jonathan herausfinden konnte, gehörte das Blatt nicht zu einer Chronik. Der Form nach – es war immer wieder von ›hohen Herren‹ die Rede – mochte es sich um einen Brief handeln, aber der Sprachstil war dafür sehr ungewöhnlich.
    »Vielleicht ein Bericht«, murmelte Jonathan nachdenklich vor sich hin. »Ein Bericht von einem Vasallen an einen Lord oder König …«
    Mit detektivischer Neugier las er weiter. Sein Ehrgeiz hatte ihn gepackt und drängte ihn dazu herauszufinden, an wen dieses Schriftstück einst gerichtet gewesen war und worum es im Einzelnen darin ging. Bei der Erforschung der Vergangenheit waren nicht nur solide historische Kenntnisse, sondern auch ein gutes Maß an Neugier gefragt. Jonathan besaß beides.
    Die Schrift zu entziffern war ein entmutigendes Unterfangen. Obwohl er inzwischen einige Erfahrungen darin gesammelt hatte, die von Abkürzungen und Änigmen durchsetzten Aufzeichnungen zu lesen und zu deuten, kam er nur ein paar Zeilen weit. Auf den verschlungenen Pfaden, die der Verfasser dieser Schrift beschritten hatte, ließ das Schullatein Jonathan schmählich im Stich.
    Immerhin tauchten einige Wörter auf, die seine Aufmerksamkeit erregten. Vom ›papa sancto‹ war immer wieder die Rede – war der Heilige Vater in Rom damit gemeint? An mehreren Stellen tauchten die Wörter ›gladius‹ und ›rex‹ auf, die lateinischen Bezeichnungen für ›Schwert‹ und ›König‹.
    Und immer wieder stieß Jonathan auf Begriffe, die er nicht übersetzen konnte, weil sie eindeutig nicht der lateinischen Sprache entstammten, auch nicht ihrer abgewandelten Form. Er nahm an, dass es sich dabei um Fügungen aus dem Gälischen oder Piktischen handelte, das im frühen Mittelalter noch weit verbreitet gewesen war.
    Wie Sir Walter erzählt hatte, pflegten manche der alten Schotten noch immer diese archaischen, lange Zeit verbotenen Sprachen. Was, wenn er die Schriftseite abschrieb und sie einem von ihnen zeigte?
    Jonathan schüttelte den Kopf.
    Mit dieser einen Seite würde er nicht weit kommen. Er musste den Rest des Berichts zu finden, der irgendwo in den staubigen Eingeweiden der
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