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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen
Autoren: Michael Peinkofer
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durchzuführen, eine ziemlich langweilige Tätigkeit, die allerdings gut bezahlt wurde. Zudem hatte Jonathan dabei die Ehre, für Sir Walter Scott zu arbeiten, jenen Mann, der für viele junge Schotten ein leuchtendes Vorbild war.
    Nicht nur, dass Sir Walter, der auf dem nahen Landsitz Abbotsford residierte, ein erfolgreicher Romancier war, dessen Werke sowohl in den Stuben der Handwerker als auch in den Herrenhäusern der Adeligen gelesen wurden. Er war auch durch und durch ein Schotte. Seiner Fürsprache und seinem Einfluss bei der Britischen Krone war es zu verdanken, dass viele schottische Sitten und Gebräuche, die über die Jahrhunderte hinweg verpönt gewesen waren, allmählich wieder geduldet wurden. Mehr noch, in manchen Kreisen der britischen Gesellschaft war das Schottentum geradezu in Mode. Dort galt es neuerdings als schicklich, sich mit Kilt und Tartan zu schmücken.
    Um das Verlagshaus, das Sir Walter zusammen mit seinem Freund James Ballantyne in Edinburgh gegründet hatte, mit neuem Stoff zu versorgen, arbeitete der Schriftsteller buchstäblich Tag und Nacht und meist an mehreren Romanen gleichzeitig. Zu seiner Unterstützung holte er Studenten aus Edinburgh auf seinen Landsitz, damit sie ihm halfen, geschichtliche Hintergründe zu recherchieren. Die Bibliothek von Dryburgh, die in Kelso lag und damit nur rund zwölf Meilen von Scotts Wohnsitz entfernt, bot ideale Voraussetzungen dazu.
    Über einen Freund seines Vaters, mit dem Sir Walter in jungen Jahren die Universität von Edinburgh besucht hatte, war Jonathan an die Volontärsstelle gekommen. Dass seine Arbeit dabei eher stumpfsinniger Natur war und mehr aus trockener Recherche denn aus der Suche nach verschollenen Chroniken und alten Palimpsesten bestand, konnte der hagere junge Mann, dessen Haar zu einem kurzen Zopf geflochten war, recht gut verschmerzen. Immerhin hatte er dafür die Gelegenheit, seine Zeit an diesem Ort zu verbringen, wo Vergangenheit und Gegenwart sich berührten. Manchmal saß er bis spät in die Nacht hier und vergaß über alten Briefen und Urkunden völlig die Zeit.
    So auch an diesem Abend.
    Den ganzen Tag über hatte Jonathan recherchiert und Material zusammengetragen: Einträge aus Annalen, Herrscherberichten, Klosterchroniken und anderen Aufzeichnungen, die Sir Walter beim Verfassen seines neuesten Romans von Nutzen sein mochten.
    Gewissenhaft hatte Jonathan alle bedeutsamen Daten und Fakten herausgeschrieben und in dem Notizbuch festgehalten, das Sir Walter ihm gegeben hatte. Nach getaner Arbeit aber hatte er sich wieder seinen eigenen Studien zugewandt und damit jenem Teil der Bibliothek, dem sein eigentliches Interesse galt: den in altes Leder geschlagenen Sammelbänden, die im oberen Stockwerk lagerten und zum guten Teil noch nicht einmal gesichtet worden waren.
    Wie Jonathan festgestellt hatte, waren darunter Pergamente aus dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert: Urkunden, Briefe und Fragmente aus einer Epoche, deren Erforschung sich bislang vor allem auf englische Quellen stützte. Wenn es ihm gelänge, eine bislang unbekannte schottische Quelle aufzuspüren, würde das einer wissenschaftlichen Sensation gleichkommen, und sein Name würde in Edinburgh in aller Munde sein …
    Der Ehrgeiz hatte den jungen Studenten gepackt, sodass er jede freie Minute nutzte, um auf eigene Faust in den Beständen der Bibliothek zu recherchieren. Er war sicher, dass weder Sir Walter noch Abt Andrew, der Verwalter des Archivs, etwas dagegen hatten, solange er seine eigentliche Aufgabe pünktlich und gewissenhaft erledigte.
    Im Schein der Kerze, der den Tisch in warmes, flackerndes Licht tauchte, studierte er nun eine jahrhundertealte Fragmentsammlung – Bruchstücke von Annalen, die Mönche des Klosters Melrose verfasst hatten, aber auch Urkunden und Briefe, Steuerberichte und dergleichen mehr. Das Latein, in dem die Schriftstücke gehalten waren, war nicht mehr die Hochsprache eines Caesars oder Ciceros, die heutzutage an den Schulen unterrichtet wurde. Die meisten Verfasser hatten sich einer Sprache bedient, die nur noch ansatzweise an die der Klassiker erinnerte. Der Vorteil war, dass Jonathan keine Mühe hatte, sie zu übersetzen.
    Das Pergament der Schriftstücke war hart und brüchig, die Tinte an vielen Stellen kaum mehr zu lesen. Die bewegte Vergangenheit der Bibliothek und die lange Zeit, in der die Bücher in verborgenen Höhlen und feuchten Kellern gelagert worden waren, hatten sich nicht gerade vorteilhaft auf
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