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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen
Autoren: Michael Peinkofer
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einem anderen Tag hätte Sir Walter ihn darauf aufmerksam gemacht, dass dies ganz und gar nicht dem Auftreten eines Gentlemans entsprach. An diesem Morgen jedoch war es ihm gleichgültig.
    Die Kutsche verließ den Wald, und durch das Seitenfenster war das helle Band des Tweed zu sehen. Nebel lag über dem Fluss und den Uferbänken. Die Sonne, die inzwischen aufgegangen war, verbarg sich hinter dichten grauen Wolken, was Sir Walters Stimmung nur noch mehr verdüsterte.
    Endlich tauchten die ersten Gebäude von Kelso zwischen den Hügeln auf. Vorbei an der Taverne und der alten Schmiede rollte die Kutsche die Dorfstraße hinab und kam vor den Steinmauern des alten Kornhauses zum Stehen. Sir Walter wartete nicht erst, bis der Kutscher abgestiegen war. Er öffnete die Tür und stieg aus. Quentin folgte ihm.
    Die Morgenluft war feucht und rau, sodass sich der Atem der Männer in der Kälte kräuselte. An den Pferden und der Kutsche, die vor dem Gebäude standen, konnte Sir Walter sehen, dass der Sheriff noch immer vor Ort war. Er gebot dem Kutscher zu warten und trat auf den Eingang zu, der von zwei Angehörigen der Landwehr bewacht wurde.
    »Es tut mir Leid, Sire«, sagte einer der beiden, als Sir Walter und Quentin sich näherten – ein grobschlächtiger Bursche, dessen rotblondes Haar ein irisches Erbe vermuten ließ. »Der Sheriff hat allen Unbefugten den Zutritt zur Bibliothek untersagt.«
    »Damit hat er Recht getan«, stimmte Sir Walter zu. »Aber ich bin der Lehrherr des Jungen, der in dieser Bibliothek zu Tode gekommen ist. Daher kann ich wohl verlangen, eingelassen zu werden.« Er brachte die Worte mit solcher Entschlossenheit vor, dass der Rothaarige nicht zu widersprechen wagte.
    Der Bursche, der einen recht unbeholfenen Eindruck machte, wechselte einen ratlosen Blick mit seinem Kameraden, dann zuckte er mit den Schultern und gab den Weg frei. Durch die große Eichenholzpforte betraten Sir Walter und Quentin das ehrwürdige Gebäude, das einst die Kornkammer der Region gewesen und nun zu einem Speicher des Wissens geworden war. Zu beiden Seiten der Haupthalle erstreckten sich doppelseitige, an die fünf Yards hohe Regale, die sich in engen Gassen gegenüberstanden. Mehrere Lesetische nahmen die freie Mitte der Halle ein. Da das Kornhaus über eine beträchtliche Höhe verfügte, hatte man entlang der Seiten eine Galerie eingezogen, die von einer hölzernen Balustrade begrenzt wurde und auf schweren Eichenholzstützen ruhte. Dort oben standen weitere Regale mit Büchern und Folianten, mehr, als ein Mensch in seinem Leben auch nur sichten konnte.
    Am Fuß der Wendeltreppe, die auf die Balustrade führte, lag etwas am Boden, worüber man ein dunkles Tuch aus Leinen gebreitet hatte.
    Sir Walter spürte Beklemmung, als ihm klar wurde, dass dies Jonathans Leiche sein musste. Daneben standen zwei Männer, die sich in gedämpftem Ton miteinander unterhielten. Sir Walter kannte sie beide.
    John Slocombe, der Sheriff von Kelso, war ein stämmiger Mann mittleren Alters, der einen abgetragenen Rock und das Abzeichen des Gemeindesheriffs trug. Sein Haar war spärlich und seine Nase vom Scotch gerötet, den er sich nicht nur an kalten Abenden gern genehmigte.
    Der andere Mann, der die schlichte Wollkutte des Prämonstratenser-Ordens trug, war Abt Andrew, der Vorsteher und Verwalter der Bibliothek. Obwohl das Kloster von Dryburgh nicht mehr existierte, hatte der Orden Andrew und einige Mitbrüder abgestellt, damit sie sich um die Bestände des alten Archivs kümmerten, das auf so wundersame Weise die Wirren der Reformationszeit überdauert hatte. Andrew war ein groß gewachsener, schlanker Mann mit asketischen, aber keineswegs unfreundlichen Zügen. Seine tiefblauen Augen waren wie die Seen der Highlands, geheimnisvoll und unergründlich. Sir Walter schätzte die Ruhe und Ausgeglichenheit, die der Abt an den Tag zu legen pflegte.
    Als sie die Besucher erblickten, unterbrachen die beiden Männer ihr Gespräch. John Slocombes Gesicht verriet blankes Entsetzen, als er Sir Walter erkannte.
    »Sir Scott!«, rief er aus und kam händeringend auf die beiden Besucher zu. »Beim heiligen Andreas, was tun Sie denn hier?«
    »Mich nach den Umständen dieses schrecklichen Unfalls erkundigen«, entgegnete Sir Walter mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
    »Es ist schrecklich, schrecklich«, sagte der Sheriff. »Sie hätten nicht kommen sollen, Sir Walter. Der arme Junge …«
    »Wo ist er?«
    Slocombe merkte, dass der Herr
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