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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen
Autoren: Michael Peinkofer
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lebendig zu sein schien, welchen er in seinen Romanen so gern heraufbeschwor.
    An manchen Tagen ließ er sich von seinem Kutscher nach Kelso bringen, um zwischen den alten Steingebäuden am Ufer des Tweed spazieren zu gehen und sich vom Odem der Vergangenheit inspirieren zu lassen. An diesem Morgen jedoch war der Weg nach Kelso ein bitterer.
    In aller Eile hatte Sir Walter das Haus über den bestürzenden Vorfall in Kenntnis gesetzt. Lady Charlotte, seine gutherzige Gattin, war sogleich in Tränen ausgebrochen, als sie vom Tod Jonathan Miltons erfahren hatte – sie hatte ihn als einen höflichen und zuvorkommenden jungen Mann kennen gelernt, der sie mit seinem schwärmerischen Patriotismus und seiner Neugier auf die Vergangenheit nicht selten an ihren Gatten in jüngeren Jahren erinnert hatte. Sir Walter hatte unterdessen anschirren lassen und die Kutsche nach Kelso zusammen mit seinem Neffen Quentin bestiegen, der ebenfalls in Abbotsford weilte und seinen Onkel begleiten wollte.
    Quentin, der seine Kindheit und Jugendzeit in Edinburgh verbracht hatte, war der Sohn einer Schwester Sir Walters: ein junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, stark und groß gewachsen wie die meisten Scotts, dabei aber von einer gewissen Einfalt, die vor allem daher rührte, dass er sein Elternhaus noch nie für lange Zeit verlassen hatte. Quentin war nach Abbotsford gekommen, um bei Sir Walter in die Schule zu gehen – nach dem Willen seiner Mutter sollte der junge Mann Schriftsteller werden wie sein berühmter Onkel.
    So sehr Sir Walter dieser Vorsatz schmeichelte, fürchtete er, dass es Quentin an den meisten Voraussetzungen fehlte, die nötig waren, um ein erfolgreicher Romancier zu werden. Zwar verfügte der junge Mann über einen wachen Geist und eine ausgeprägte Fantasie, die beide zum Einmaleins der Schriftstellerei gehörten, doch sowohl seine sprachliche Ausdrucksfähigkeit als auch die Kenntnis der Klassiker von Plutarch bis Shakespeare ließen doch zu wünschen übrig.
    Zudem hatte Quentin eine Neigung, Sachverhalte zu komplizieren und mit seltener Treffsicherheit am Wesentlichen vorbeizusehen, was er fraglos von seinem Vater geerbt hatte. Der analytisch scharfe Verstand und die energische Entschlusskraft, die allen Scotts zu Eigen waren, fehlten ihm gänzlich, und auch eine gewisse Ungeschicklichkeit des Jungen ließ sich nicht von der Hand weisen.
    Scott hatte sich dennoch bereit erklärt, Quentin bei sich aufzunehmen und ihn auszubilden. Vielleicht, sagte er sich, musste sein Neffe erst noch entdecken, wo seine wahre Bestimmung lag. Und möglicherweise konnte ihm die Zeit in Abbotsford dabei von Nutzen sein.
    »Ich kann es noch immer nicht glauben«, sagte Quentin betreten, während sie in der Kutsche saßen, die über den laubbedeckten Waldweg rumpelte. Für die Jahreszeit war es in den Nächten ungewöhnlich kühl, und beide Männer hatten ihre Umhänge eng um die Schultern geschlungen. »Dass Jonathan tot sein soll, ist einfach unfassbar, Onkel.«
    »Unfassbar, in der Tat.«
    Walter Scott grübelte düster vor sich hin. Der Gedanke, dass der junge Jonathan nur seinetwegen in Kelso gewesen war und dass er noch am Leben sein könnte, hätte er selbst ihn nicht in die Bibliothek geschickt, ließ ihn nicht los.
    Natürlich wusste er, dass das Interesse des jungen Mannes an der Vergangenheit überaus groß gewesen war, und er hatte es als seine Pflicht betrachtet, diese Neigung und das Talent, das Jonathan im Umgang mit der Historie besaß, angemessen zu fördern. Nun jedoch erschienen ihm seine Beweggründe eitel und unaufrichtig.
    Was sollte er Jonathans Eltern sagen, die ihren Sohn zu ihm geschickt hatten, damit er lernte und sich weiterentwickelte? Das Gefühl, versagt zu haben, lastete schwer auf Sir Walters Gemüt, und er spürte, wie sich eine bleierne Müdigkeit auf ihn senkte. Er hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, um an seinem neuesten Roman zu arbeiten, doch das Heldenstück um Liebe, Duelle und Kabale war ihm mit einem Mal gleichgültig. Seine Gedanken galten einzig und allein dem jungen Studenten, der im Archiv von Dryburgh ums Leben gekommen war.
    Auch Quentin bot einen elenden Anblick. Jonathan und er waren beinahe gleichaltrig und in den letzten Wochen gute Freunde geworden. Der plötzliche Tod des Studenten setzte ihm zu. Wieder und wieder fuhr er nervös durch sein dichtes braunes Haar, das wirr in alle Richtungen stand. Quentins Rock war wie immer zerknittert, die Schleife nachlässig gebunden. An
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