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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen
Autoren: Michael Peinkofer
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von Abbotsford nicht gewillt war, sich von ihm abwimmeln zu lassen. »Dort, Sir«, sagte er zögernd und trat zur Seite, um den Blick auf das blutige Bündel freizugeben, das auf dem nackten, kalten Steinboden der Bibliothek lag.
    Sir Walter hörte, wie Quentin ein leises Wimmern von sich gab, aber er achtete nicht darauf. Sein Mitgefühl und seine Anteilnahme gehörten in diesem Augenblick einzig dem jungen Jonathan, der auf so unerwartete und augenscheinlich sinnlose Weise aus dem Leben gerissen worden war. Obwohl Sir Walter ein stämmiger Mann von bester Konstitution war, merkte er, wie seine Knie weich wurden, als er sich dem Toten näherte.
    Die Diener des Sheriffs hatten eine Decke über den Leichnam gebreitet, die sich an einigen Stellen mit dunklem Blut voll gesogen hatte. Auch auf dem Boden war Blut zu sehen. In zähen Rinnsalen war es über die Steinplatten gekrochen und schließlich in der Kälte geronnen.
    Sheriff Slocombe blieb an Sir Walters Seite und gestikulierte weiter aufgeregt. »Sie müssen bedenken, Sir Walter, dass es ein Sturz aus großer Höhe war. Der Anblick ist schrecklich. Ich kann Sie nur warnen, den Toten zu be…«
    Sir Walter ließ sich nicht beirren. Kurz entschlossen bückte er sich, griff nach der Decke und zog sie fort. Der Anblick, der sich den vier Männern bot, war tatsächlich furchtbar.
    Es war Jonathan, daran bestand kein Zweifel. Der Tod hatte ihn jedoch grausam entstellt. In bizarrer Verrenkung lag der Student auf dem Boden. Er schien kopfüber gestürzt und mit großer Wucht aufgeschlagen zu sein. Blut war überall, dazu etwas, das Sir Walter für ausgetretene Hirnmasse hielt.
    »Schrecklich, nicht wahr?«, fragte der Sheriff und blickte Sir Walter betroffen an. Während der Herr von Abbotsford erbleichte und betroffen nickte, hielt Quentin es nicht mehr aus. Der junge Mann gab einen gurgelnden Laut von sich, hielt sich die Hand vor den Mund und rannte nach draußen, um sich zu übergeben.
    »Ihr Neffe scheint den Anblick nicht zu ertragen«, stellte der Sheriff mit leisem Vorwurf fest. »Ich sagte ja, dass es entsetzlich ist, aber Sie wollten mir nicht glauben.«
    Sir Walter erwiderte nichts darauf. Stattdessen überwand er seine Scheu und sein Entsetzen und bückte sich, um von Jonathan Abschied zu nehmen.
    Ein Teil von ihm hoffte wohl, Vergebung zu finden, wenn er in das blasse, blutverschmierte Gesicht des Toten blickte. Doch was Sir Walter dort fand, war etwas anderes.
    »Sheriff?«, fragte er.
    »Ja, Sir?«
    »Ist Ihnen der Gesichtsausdruck des Toten aufgefallen?«
    »Was meinen Sie, Sir?«
    »Die Augen sind weit geöffnet, der Mund aufgerissen. In den letzten Sekunden seines Lebens muss sich Jonathan über irgendetwas sehr entsetzt haben.«
    »Er wird gemerkt haben, dass er das Gleichgewicht verlor. Vielleicht wurde ihm für einen kurzen Moment bewusst, dass dies das Ende ist. So etwas kommt vor.«
    Sir Walter blickte an der schmalen hölzernen Wendeltreppe hinauf, die sich nur wenige Schritte entfernt in die Höhe rankte.
    »Hatte Jonathan Bücher bei sich, als er die Treppe herunterkam?«
    »Soweit wir das sagen können, nicht«, erwiderte Abt Andrew, der bislang nur schweigend zugehört hatte. »Jedenfalls wurden keine gefunden.«
    »Keine Bücher«, resümierte Sir Walter leise.
    Er blickte zur Treppe, versuchte sich vorzustellen, wie das tragische Unglück abgelaufen sein mochte. So sehr er sich auch bemühte, es wollte ihm nicht recht gelingen.
    »Verzeihen Sie, Sheriff«, sagte er deshalb, »aber da sind einige Dinge, die ich nicht verstehe. Wie kann ein junger Mann, der keine Last bei sich trägt und beide Hände frei hat, um sich am Geländer festzuhalten, so von dieser Treppe stürzen, dass er auf den Kopf fällt und sich den Schädel bricht?«
    Die Farbe in John Slocombes Gesicht wurde um eine Winzigkeit blasser, und Sir Walter, den sein Beruf zu einem aufmerksamen Beobachter gemacht hatte, entging auch nicht das Blitzen, das kurz in den Augen des Sheriffs aufflackerte.
    »Was meinen Sie damit, Sir?«, fragte er.
    »Dass ich nicht glaube, dass Jonathan von den Stufen gestürzt ist«, sagte Sir Walter, während er sich langsam aufrichtete, zur Treppe ging und die untersten Stufen emporstieg. »Sehen Sie sich das Blut an, Sheriff. Wäre Jonathan tatsächlich von hier gestürzt, müssten die Flecken in Richtung Ausgang deuten. Sie zeigen jedoch in die entgegengesetzte Richtung.«
    Der Sheriff und Abt Andrew tauschten einen flüchtigen Blick. »Vielleicht«,
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