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Brennende Kälte

Brennende Kälte

Titel: Brennende Kälte
Autoren: Wolfgang Schorlau
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    Prolog
    Welche Farbe hat das Paradies? In seiner Erinnerung war es erdbraun und gelb und moosgrün. Es roch nach warmem Waldboden, nach Fichtennadeln und Tannenzapfen.
    Nur wenige Meter oberhalb des alten Forstwegs lag ihr Versteck. In der Mitte eine riesige, über hundert Jahre alte Blautanne, umringt von einer Gruppe Fichten, die in einem respektvollen Radius von vier Metern wuchsen, gerade so, als wollten sie den ehrwürdigen Stamm vor fremden Blicken schützen. Und so umgab den großen Baum eine halbdunkle Höhle, die, so glaubten die beiden Jungs damals, ihr alleiniges Geheimnis sei.
    Oft versteckte er sich allein in der Höhle. Die spätsommerliche Sonne wärmte seinen Rücken und ließ die am Boden liegenden Äste knacken. Manchmal saß er stundenlang in diesem Versteck und tat nichts. Saß einfach da und fühlte sich geborgen. Geborgen und sorglos. So ist es also, das Glück, dachte er damals. So ist es, keine Angst zu haben. Nicht vor den Geräuschen des Waldes und nicht vor den Menschen. Er schloss die Augen, fest, ganz fest, kniff die Lider zusammen und nahm sich vor, dieses Gefühl nie wieder zu vergessen. Es hing mit dem Geruch der Erde zusammen, der Wärme und wohl auch damit, dass er allein in diesem winzigen Paradies saß und sich ganz auf sich konzentrieren konnte. Nie, nie, nie, sagte er leise voll kindlicher Inbrunst, nie werde ich diesen Moment vergessen.
    Und nun, mehr als drei Jahrzehnte später, hockte er in seinem blauen Toyota und starrte hinüber zum Eingang des Supermarktes. Um halb zehn Uhr abends. Draußen war es endlich finster. Der Sommerregen hatte ausgedehnte Pfützen auf dem Parkplatz hinterlassen, in denen sich das Licht der Reklame und des riesigen Schaufensters spiegelte. Seiteiner Stunde saß er im Wagen und zählte die Kunden, die so spät noch schattengleich durch die Eingangstür huschten. Achtzehn zählte er. Achtzehn Kunden. An der Kasse würde keine lange Schlange stehen. Wenig Personal, dachte er, so spät am Abend. Er konnte es wagen. Verdammt noch mal, er konnte es wirklich wagen.
    Und ich werde es schaffen.
    Trotzdem blieb er sitzen. Vom Bauch her kroch eine unbestimmte Angst nach oben, nistete sich in seinem Solarplexus ein, seiner Angststelle, wie er sie nannte. Er spürte den Druck deutlich, wie er wuchs, nicht so stark wie damals, natürlich nicht, aber doch so, dass ihm das Atmen schwerer fiel.
    Und, merkwürdig, genau in diesem Augenblick dachte er an das Versteck am alten Forstweg. Er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, aber das Bild blieb. Er kniff die Augen zusammen, wie er es damals getan hatte, und er erinnerte sich genau an den Forstweg, der bergauf ging, an der Hütte vorbei, die die Verbindungsstudenten im Winter als Quartier für ihre Skiausflüge nutzten, dann kam das Haus mit dem kleinen Turm, das früher einmal eine Pelztierzucht gewesen war, und dahinter schließlich bog der alte Forstweg in den Wald ein. Nach fünfzig Metern schlug man sich rechts durch die jungen Fichten und war dann gleich an dem Versteck. Er erinnerte sich an den kleinen Jungen, der er einmal gewesen war, daran, wie er sich fest vorgenommen hatte, diesen Augenblick nie wieder zu vergessen. Nur das Gefühl, das ihn damals überwältigt hatte, das konnte er nicht mehr in sich wachrufen. Er hatte es verloren.
    Aber all das durfte jetzt keine Rolle spielen.
    Action Jackson, sagte eine innere Stimme. So hatte es der kleine verrückte Texaner vor jedem Einsatz gesagt. Action Jackson. Und dann war es losgegangen. Jetzt war Jackson tot.
    Mit einem Griff löste er den Sicherheitsgurt, öffnete die Autotür, stieg aus. Er schloss nicht ab. Es widerstrebte ihm, denWagen offen zu lassen, fast machte es ihn wütend, aber es musste sein. Dann ging er langsam und steif auf die Tür des Supermarktes zu. Der Druck in seinem Bauch wuchs.
    Drinnen nahm er sich einen dieser metallenen Einkaufswagen, für den er ein Eurostück in eine Box stecken musste, die am Haltegriff angeschweißt war. Erst dann löste sich der Wagen von den anderen. Er zog ihn am Haltegriff aus der Reihe und schob ihn langsam durch die Abteilung mit dem Frischgemüse, dann in die erste Regalreihe.
    Kein Mensch zu sehen.
    In dem Regal lagen Salzstangen, Nüsse, Käsegebäck und Kekse.
    Vorsichtig nahm er eine Tüte mit Kartoffelchips aus dem untersten Regal. Der Plastikbeutel knisterte so laut, als er ihn in den Wagen warf, dass er sich umsah. Niemand schien etwas gehört zu haben.
    Jetzt war er ganz
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