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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle
Autoren: Claudie Gallay
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zweites Mal auf, es war dunkel. Die Wahrheitsknochen lagen auf dem Tisch, neben seinen Zigaretten. Den Gläsern. Den Briefen.
    Ich fachte das Feuer wieder an.
    Ich las ein paar Briefe.

A m Morgen besuchte ich die Katzen und füllte ihre Näpfe. Ich kontrollierte, ob das Fenster immer noch offen stand, und klemmte es mit einem Stein fest, damit der Wind es nicht zudrücken konnte.
    Das weiße Kätzchen war nicht da. Ich suchte es überall, auf dem Hof, auf dem Heuboden. Ich rief es.
    Ich setzte mich auf die Stufen.
    Ich dachte an dich. Ich verlor dich. Entweder hattest du dich entfernt. Oder ich war es. Vor gar nicht langer Zeit hatte ich die Hand auf deine Schulter gelegt. Deine Wärme. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich mich noch mühelos an dich schmiegen.
    Die Zeit richtet ihr Massaker an. Schleichend. Schon weinte ich nicht mehr.

I ch hörte Lilis Schritte über unseren Köpfen. Das Knacken des Fußbodens. Eine Schranktür quietschte.
    Die Mutter saß wieder auf ihrem Stuhl, an ihrem Tisch. Sie steckte den Löffel in eine Buchstabensuppe und starrte auf das, worin sie rührte. Sie kaute und schluckte ohne Begeisterung.
    Sie wirkte noch älter, jetzt, wo Nan tot war.
    Seit zwei Tagen war Lambert weg. Die Fenster, das Haus, die geschlossenen Fensterläden, der Wegweiser auf der anderen Seite der Straße:
    Jobourg 4
Beaumont-Hague über D90 10
Saint-Germain-de-Vaux über D 45 0,7
Omonville-la-Petite 5
Cherbourg 30
    Das wusste ich alles auswendig.
    »Das ist gar nicht deine Zeit!«, sagte Lili, als sie mich da sitzen sah.
    Sie ging hinter den Tresen. Wir sahen uns an. Was sollten wir sagen?
    »Was willst du essen?«, fragte sie.

    »Ich weiß nicht …«
    Was hatte sie gewonnen, als sie Michel die Wahrheit gesagt hatte? Wäre das Leben für sie schwieriger gewesen, wenn Théo zu Nan gezogen wäre?
    »Was hältst du von schönen heißen Nudeln?«
    »Nudeln?«
    Sie zeigte auf den Teller, die Buchstabensuppe.
    Ich nickte.
    Sie goss eine große Kelle voll in eine Schüssel. Dann kam sie zu mir, die Schüssel zwischen den Händen. Sie sah mich an. Forschend. Warf einen Blick nach draußen, auf die geschlossenen Fensterläden.
    Ihr Vater war weggegangen.
    Sie hatte jahrelang geschwiegen. Um in Ruhe weiterleben zu können, würde sie weiter schweigen müssen.
    »Hast du den Tag an der Steilküste verbracht?«
    Das sagte sie.
    Sie sprach nicht von Théo. Dabei war es der Tag, an dem ich immer sein Essen mitgenommen hatte, um es ihm zu bringen.
    Der Beutel hing am Nagel. Leer.
    »Du hast die Augen der Heide«, sagte sie und stellte die Schüssel vor mich.
    Die Augen der Heide, die Augen derer, die umherirren.
    »Ich habe den ganzen Tag das Meer beobachtet. Das war schön …«, sagte ich schließlich.
    Sie sah mich wieder an. Sie brachte es fertig, von Vögeln zu sprechen, um nicht von ihrem Vater sprechen zu müssen.
    »Und was hast du gezählt?«
    Ich zog das Heft aus der Tasche, langsam, versuchte zu schlucken, mein Mund war plötzlich zu trocken.
    Ich schlug das Heft auf.
    Zeigte es ihr.

    »… 469 Basstölpel, 3 Trauerenten, 71 Flussseeschwalben, 2 Austernfischer, 3 Sturmmöwen und 46 Brandseeschwalben.«
    Sie richtete sich auf, das Geschirrtuch in der Hand.
    »Die hast du alle gezählt?«
    »Alle.«
    »Und was sagt dir das?«
    Ich klappte das Heft zu.
    Ich sah sie an. Ihre Augen waren Schlitze. Die Augen ihres Vaters.
    »Dass die Austernfischer selten sind«, sagte ich.
     
    Ich gewöhnte mir an, am späten Nachmittag ein, zwei Stunden bei Lambert zu verbringen. Ich machte Feuer. Ich kochte Kaffee. Ich wartete darauf, dass er zurückkam.
    Ich trank seine Flasche Whisky leer.
    Michels Briefe lagen immer noch auf dem Tisch. Ich hatte sie alle ein zweites Mal gelesen.
    Ich wusste nicht, ob das Haus wirklich verkauft war. Jedenfalls kam niemand mehr, um es zu besichtigen.
    Wenn ich ging, ließ ich den Schlüssel im Schloss stecken.
    Abends schaute ich bei Théo vorbei, um die Katzen zu füttern. Ich füllte ihre Näpfe. Machte ihnen Feuer. Ich machte auch das Radio an, damit sie ein Geräusch hörten.
    Ich zog die Uhr auf und wartete am Tisch sitzend auf den besonderen Moment, in dem der Zeiger hängen blieb. Und wenn der Moment kam, in diesen zwei Minuten angehaltener Zeit, dachte ich an dich.
    Manchmal sprang eine Katze auf meinen Schoß, rollte sich zusammen und schlief ein. Ich traute mich nicht mehr, mich zu bewegen. Die Zeit verging.
    Das weiße Kätzchen, das Théo so liebte, war noch immer nicht wieder
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