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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle
Autoren: Claudie Gallay
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sah ihn einen Moment lang an, ohne dass er mich bemerkte, dann ging ich zu ihm.
    »Théo ist weggefahren«, erklärte ich, als bräuchte ich eine Entschuldigung dafür, dass ich da war.
    »Ich weiß.«
    Er zeigte mit einer Kopfbewegung zur Straße.
    »Er ist im Taxi gekommen, hat vor dem Bistro gehalten. Er hat bestimmt fünf Minuten gewartet, ohne auszusteigen.«
    »Und Lili? Ist sie nicht rausgekommen?«
    »Nein, aber sie hat ihn hinter dem Vorhang gesehen, ich bin sicher, dass sie da war.«
    Feuerzungen lösten sich aus der Glut, lange rote und goldene Flammen, die die Schatten peitschten. Die Glut war feucht. Der Rauch, der aus ihr aufstieg, roch scharf.
    Er bohrte die Forke in die Erde und zündete sich eine Zigarette
an. Mit dem Daumen fuhr er über die tiefe Falte, die sich über seine Stirn zog.
    »Wissen Sie, wo er hinfährt?«
    »Ich weiß es, ja …«
    Er sah mich an. Er hatte die Briefe gelesen. Er verstand. Er schwieg einen Moment und starrte auf den Boden zwischen seinen Füßen, dann griff er wieder nach der Forke. Warf Äste in die Flammen.
    Das Feuer brannte. Die warmen Flammen röteten unsere Gesichter. Unsere Hände.
    Nach dem nächsten Regen würde die Asche aufgelöst sein, würde sich mit der Erde und dem Wasser vermischt haben.
    Er ging einmal ums Feuer, um alles in die Mitte zu schieben, was noch brennen sollte. Die letzten Sträucher. Ein paar alte Bretter. Das Schild Zu verkaufen , das lange am Zaun gehangen hatte.
    Er ließ seine Forke in der Erde stecken.
    »Ich habe einen Bordeaux, einen 95er Cantemerle, haben Sie Lust?«
    Ich trank gern mit ihm.
    »Ist die neu? Diese Bluse?«, fragte er und zeigte auf meine Bluse.
    »Sie gehörte Morgane …«
    Darüber musste er lachen.
    Wir sprachen über Wein, über Sorten, die es so gab, und über das Vergnügen, sie zu trinken. Wir leerten unsere Gläser und füllten sie neu. Ich wusste nicht, worauf wir tranken, ob auf das Glück oder auf die Verzweiflung, vielleicht auf die geheime Mischung von beidem.
    Irgendwann sah er mich an.
    »Und wenn es nicht stimmt? Wenn wir uns getäuscht haben? Wenn Théo uns belogen hat?«

    Mit Zufällen kannte er sich aus, ein falscher Schritt, eine Unachtsamkeit. Er erzählte mir von Ermittlungen, von Spuren, denen er mit geschlossenen Augen gefolgt war, bis er in einer Sackgasse landete.
    Wir tranken weiter.
    Er sprach. Er schwieg. Sprach wieder, um dann nach seinem Glas zu greifen.
    »Aber die Sachen, die wir gefunden haben, die sind doch Beweis genug, oder?«
    Er war sich nicht mehr sicher.
    Die Briefe lagen auf dem Tisch, in der Schachtel. Eine dicke gelbe Hummel lag daneben, auf dem Rücken, die Beine in die Luft gestreckt. Sicher war sie schon lange tot. Ich nahm sie in die Hand. Sie war so trocken, dass sie zerfiel, kaum dass ich sie berührt hatte. Ich schloss die Finger nacheinander. Ich wusste nicht, was ich mit diesem Staub anfangen sollte.
    »Als er mich zum letzten Mal gesehen hat, war er zwei Jahre alt … In diesem Alter erinnert man sich nicht. Aber ich, ich erinnere mich an ihn. Wie lange braucht man, um dorthin zu fahren?«
    »Paris, Lyon … Grenoble. Zehn Stunden?«
    Er füllte die Gläser.
    »Zehn Stunden, das geht. Ich fahre morgen.«
    Wir tranken und sprachen die ganze Geschichte noch einmal durch, von Anfang an, die Fotos, das Spielzeug. Das Floß, auf dem sein Bruder festgebunden war.
    Er nahm meine Hand, bog meine Finger auf.
    »Warum behalten Sie das?«
    Er pustete den Staub weg.
    Wir hatten zu viel getrunken. Er, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er einen Bruder wiedergefunden hatte.
    Ich …

    Ich wusste es nicht.
    Ich steckte die Hand in die Tasche. Unter kurzen Schnüren ertastete ich Muschelschalen, den Zahn des Heringshais. Ganz unten die glatte Oberfläche von zwei Wahrheitsknochen.
    Ich holte sie heraus.
    Ich zeigte sie ihm.
    Er streckte die Hand aus.
    Ich sah seine breite, tiefe Handfläche. Ich hätte mein Gesicht darin vergraben mögen.
    Ich legte die Knochen in diese Hand. Er warf die Knochen in die Luft und wünschte sich mit geschlossenen Augen etwas. Die Knochen fielen herunter, beide lagen richtig.
    Er lächelte, stand auf.
    Er kam zu mir.
    »Ich fahre weg, zwei, drei Tage.«
    Meine Stirn an seinem Körper, wenige Zentimeter entfernt. Die Wolle seines Pullovers roch nach Feuer.
     
    Ich schlief in einem der Sessel vor dem Kamin ein.
    Als ich aufwachte, war er weg. Sein Pullover lag neben mir. Ich kuschelte den Kopf hinein.
    Ich schlief weiter.
    Ich wachte ein
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