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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle
Autoren: Claudie Gallay
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Z um ersten Mal sah ich Lambert am Tag des großen Sturms. Der Himmel war schwarz und niedrig, auf dem Meer toste es schon kräftig.
    Er war kurz nach mir gekommen und hatte sich auf die Terrasse gesetzt, an einen Tisch mitten im Wind. Die Sonne ließ ihn das Gesicht verziehen, es sah aus, als würde er weinen.
    Ich beobachtete ihn, nicht weil er den schlechtesten Tisch gewählt hatte, und auch nicht wegen seiner Grimassen. Ich beobachtete ihn, weil er genauso rauchte wie du, den Blick ins Leere gerichtet, mit dem Daumen über die Lippen streichend. Trockene Lippen, vielleicht trockener als deine.
    Ich vermutete, er sei Journalist – so ein Sturm zur Tagundnachtgleiche konnte ein paar schöne Fotos geben. Hinter der Mole grub der Wind bereits tiefe Wellentäler und vertrieb den Gezeitenstrom Raz Blanchard  – die schwarzen Flüsse aus den Nordmeeren oder den Tiefen des Atlantiks.
    Morgane kam aus dem Gasthof. Sie bemerkte Lambert.
    »Sie sind nicht von hier«, sagte sie und fragte, was er wolle.
    Ihr Tonfall war mürrisch, wie immer, wenn sie bei schlechtem Wetter Gäste bedienen musste.
    »Sind Sie wegen dem Sturm hier?«
    Er schüttelte den Kopf.

    »Dann wohl wegen Prévert? Alle kommen wegen Prévert …«
    »Ich suche ein Bett für die Nacht«, sagte er schließlich.
    Sie zuckte mit den Schultern.
    »Wir sind kein Hotel.«
    »Und wo finde ich eins?«
    »Im Dorf gibt’s eins, gegenüber der Kirche … Oder in La Rogue. Landeinwärts. Da wohnt eine Freundin vom Wirt, eine Irin, sie hat eine Pension … Wollen Sie ihre Nummer?«
    Er nickte.
    »Kann ich noch etwas zu essen bestellen?«
    »Es ist drei …«
    »Na und?«
    »Um drei gibt’s nur Schinkensandwich.«
    Sie zeigte auf den Himmel und die herannahende Wolkenwand. Die Sonne blitzte dahinter hervor. In zehn Minuten würde es stockdunkel sein.
    »Das wird eine Sintflut!«
    »Sintflut oder nicht, sechs Austern und ein Glas Wein, bitte.«
    Morgane lächelte. Lambert war ein ziemlich hübscher Kerl. Sie hatte Lust, ihn zappeln zu lassen.
    »Auf der Terrasse servieren wir nur Getränke.«
    Ich trank zwei Tische hinter ihm einen Kaffee. Andere Gäste gab es nicht. Sogar drinnen war es leer.
    Aus den Fugen in der Wand wuchsen graublättrige Pflänzchen. Durch den Wind sah es aus, als würden sie klettern.
    Morgane seufzte.
    »Ich muss erst den Wirt fragen.«
    An meinem Tisch blieb sie stehen und trommelte mit ihren roten Fingernägeln auf das Holz.
    »Alle kommen wegen Prévert … Warum sollte man wohl sonst kommen?«

    Sie verschwand im Lokal, nachdem sie noch einen kurzen Blick über die Schulter geworfen hatte. Ich dachte, sie würde nicht mehr zurückkommen, aber kurz darauf war sie mit einem Glas Wein, Brot auf einer Untertasse und den Austern auf einem Algenbett wieder da und stellte alles vor ihn hin. Auch die Nummer der Irin gab sie ihm.
    »Der Wirt hat gesagt, Austern sind okay, aber draußen ohne Tischtuch … Und Sie sollen sich beeilen, gleich geht’s los.«
    Ich bestellte mir noch einen Kaffee.
    Er trank den Wein. Sein Glas hielt er nicht richtig, aber er war ein Austernkenner.
    Morgane stapelte die Stühle auf, lehnte sie alle gegen die Wand und machte sie mit einer Kette fest. Sie winkte mir zu.
    Von da, wo ich saß, sah ich den ganzen Hafen und die Griffue , das Haus, in dem wir wohnten – sie mit ihrem Bruder Raphaël im Erdgeschoss, ich allein in der Wohnung darüber. Das Haus stand hundert Meter vom Lokal entfernt, am Ende der Straße, fast schon im Meer. Ohne Schutz. An Sturmtagen nur die Sintflut. Die Leute hier sagen, man müsse verrückt sein, um an so einem Ort zu leben. Sie hatten dem Haus den Namen La Griffue gegeben, die Zerkratzte, wegen der Tamariskenäste, die wie Fingernägel klangen, wenn sie über die Fensterläden kratzten.
    Früher war es ein Hotel gewesen.
    Früher, wann war das?
    In den Siebzigern.
    Es war kein sehr großer Hafen. Ein gottverlassenes Nest, eine Handvoll Männer und ein paar Boote.
    La Hague.
    Westlich von Cherbourg.
    Östlich oder westlich, ich verwechselte es immer.
    Ich war im Herbst gekommen, mit den Wildgänsen, vor gut
sechs Monaten. Ich arbeitete für das Ornithologische Zentrum von Caen, beobachtete Vögel, zählte sie. Die beiden Wintermonate hatte ich damit verbracht, das Verhalten von Kormoranen bei großer Kälte zu studieren. Ihren Geruchssinn, ihr Sehvermögen … Stundenlang draußen, im Wind. Jetzt, im Frühling, beobachtete ich Zugvögel, zählte die Eier, die Nester. Es war eine
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