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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle
Autoren: Claudie Gallay
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aufgetaucht.

E in kleines Boot in der Ferne. Max fuhr parallel zur Küste bis zur Spitze von La Loge, zwischen dem Semaphor von Goury und Port-Racine und dann hinaus aufs Meer. Bald war das Boot nur noch ein Lichtpunkt zwischen Himmel und Meer, und schließlich war es gar nicht mehr zu sehen. Die Kleine folgte ihm mit den Augen. Sie wäre gern mit ihm aufs Meer hinausgefahren. Sie starrte ihm so intensiv nach, dass sie sich erbrach. Das war die Krankheit derer, die an Land blieben und die Boote hinausfahren sahen.
    Die Krankheit derer, die die anderen leben sahen, derselbe Schmerz. Dieselbe Übelkeit.
    »Später, wenn du groß bist, fährst du auch aufs Meer.«
    Sie sah mich mit ihren riesigen Augen an. Ihr Mund mit der zerrissenen Lippe.
    »Wann ist später?«, fragte sie.
    Ich nahm sie bei der Hand.
    »Ich weiß nicht. Bald …«
    Ihre Hand war warm, schmiegte sich in meine.
    »Bald ist zu weit weg!«, flüsterte sie.
    »Die Zeit vergeht schnell.«
    Sie rannte weg, floh bis ans Ende der Weiden, gefolgt von ihrem Hund. Ihrem Schatten. Sie legte sich ins Gras, in die Sonne,
mit offenem Mund und ausgebreiteten Armen. Sie streifte den Pullover über dem nackten Bauch hoch.
    Kinder wachsen schneller im Licht – wie die Pflanzen und die Blumen. Lili hatte das einmal gesagt, aber sie hatte von Mondstrahlen gesprochen.
    Mond oder Sonne … Die Kleine hatte sich hingelegt, um ihrer Kindheit zu entkommen und schneller ins Morgen zu gelangen.
    Ich folgte dem Boot in der Ferne mit meinem Fernglas. Max am Steuer. Die Möwe auf dem Dach. Sie war immer bei ihm. Er streichelte sie, wie man eine Katze streichelt. Er lehrte sie, Wörter zu sagen. Einfache Wörter. Er behauptete, Möwen könnten sprechen lernen. Andere Fischer bestätigten es.
    Max sprach selten von Morgane.
    Raphaël hatte ihn mehrmals gerufen, wenn Morgane am Telefon war. Er war gekommen und hatte zugehört. Er hatte fast nichts gesagt. Sein Blick war gleichgültig geworden. Sie nicht zu sehen hatte ihm geholfen, sie weniger zu lieben.
    Jetzt rief Raphaël ihn nicht mehr, wenn Morgane anrief.
     
    Die Katzen gewöhnten sich an Théos Abwesenheit. Wenn ich sie begrüßte, kamen sie zu mir, rieben sich an meinen Beinen. Sie fraßen, was ich ihnen in die Näpfe schüttete.
    Sie ließen sich streicheln.
    Manche schnurrten.
    Meistens blieb ich eine Stunde oder zwei.
    Ich lüftete das Haus.
    Das weiße Kätzchen war immer noch nicht aufgetaucht.
    Ich schrieb den ersten Brief an Théo, erzählte ihm, dass alles in Ordnung sei.

D as Telefon klingelte, als ich gerade im Flur stand und nach oben gehen wollte. Draußen war es fast dunkel. Raphaël rief mich. Ich hörte Morgane am anderen Ende lachen. Sie sprach schnell. Sie wirkte glücklich. Sie wollte wissen, wie das Meer aussah. Ich zog den Vorhang auf und sah hinaus zum Leuchtturm.
    »Es ist gerade Flut.«
    »Und die Farben?«
    Der Himmel und das Meer hatten das gleiche Grau, leicht bräunlich, wegen des Windes, der von Osten kam und den Schlamm aufwühlte. Das Heidekraut auf dem Hügel welkte schon.
    Ich beschrieb ihr das alles.
    »Möwen fliegen über den Strand. Der Leuchtturm ist noch nicht an. Es kann sich nur noch um Minuten handeln.«
    »Passt du auf und sagst mir Bescheid, wenn er angeht?«
    Ich fixierte den Leuchtturm. Über Aurigny änderte sich das Wetter, bald würde Nebel aufziehen.
    Ich erzählte ihr, dass Max zum Angeln rausgefahren war. Dass er eine Möwe gezähmt hatte und dass es der Ratte gutging.
    Ich lief nach draußen, damit sie die Möwen hörte. Und auch den Wind.

    »Gestern hat Max Delphine im Raz Blanchard schwimmen sehen. Raphaël hat sie auch gesehen.«
    »Delphine?«
    Morgane konnte es nicht glauben. Sie wollte, dass wir Fotos machten, dass wir sie ihr schickten.
    Hinter mir knirschten Schritte.
    »Was haben die Delphine gemacht?«, fragte sie.
    »Ich weiß nicht … Max hat gesagt, dass es mehr als zehn waren. Sie sind in der Strömung um das Boot herumgeschwommen.«
    »Raphaël hat sie auch gesehen und mir nichts erzählt?!«
    »Raphaël schert sich nicht um Delphine …«
    »Und der Ratte geht es gut?«
    »Es geht ihr gut, ja …«
    »Und dir, geht’s dir gut?«
    Die Schritte. Der Ledergeruch der Jacke. Ich spürte ihn, ehe ich ihn sah, ein wilder Herzschlag.
    »Ich …«
    Er war da, hinter mir, berührte mich fast. Ich spürte seinen Atem in meinem Nacken. Er legte die Arme um mich. Verschränkte sie vor meinem Bauch. Seine Hände. Ich hörte sein Herz an meinem Rücken
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