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Die Erdfresserin

Die Erdfresserin

Titel: Die Erdfresserin
Autoren: Julya Rabinowich
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»Erzählen Sie mir ein wenig von sich.«
»Schauen Sie einfach in Ihren Unterlagen nach. Ich sehe, da liegt ein ganzer Stapel Papiere in meinem Akt.«
»Das ist nicht Ihre Geschichte. Ihre Geschichte ist das, was mich interessiert.«
»Was genau?«
»Sie, Ihre Familie, Ihre Vergangenheit.«
    1
    Ich wusste so gut wie nichts mehr über Vater. Eine warme, große Brust, an der mein Hinterkopf lehnte, eine nach altem Tabak riechende Pfeife mit schwarzem Griff und gelblichem Mundstück. Elfenbein. Diese Pfeife war eines der Beweisstücke, die Mutter anführte, wenn die Rede auf Vaters Verschwinden kam. Seine Lieblingspfeife hätte er nie zurückgelassen, wenn er nicht beabsichtigt hätte, wiederzukommen.
    Wenn schon nicht wegen der Kinder, dann wegen der Pfeife.
    Als ich siebzehn Jahre alt wurde, kaufte ich mein erstes Päckchen Zigaretten und übergab mich heimlich im Hinterhof. Unser Haus, das größte und schönste, im Zentrum des Dorfes gelegen, ein steinernes Haus, im Gegensatz zu den kleinen schiefen Ziegelbauten rundum, gehörte nun Mutter. Wir hatten Geld. Noch.
    Mein Vater war ein belesener Mann, einer, der von den Nachbarn aus Respekt gemieden wurde, ja man munkelte sogar, dass er eine Bibliothek besaß, einen eigenen Raum, der nur für Bücher verschwendet wurde. Als Kinder spielten meine Schwester und ich gerne darin, da das leere Zimmer, das an den Wänden von Regalen gesäumt wurde, die vom Boden bis zur Decke reichten, am meisten Platz für wilde Spiele bot. Man konnte sogar mit unserem Roller im Winter darin herumfahren. Die Bücher hatten einen eigenartigen Geruch, wie das ganze Zimmer, sie waren alt, meist in Stoff oder Leder gebunden, manche in einer uns unbekannten Sprache verfasst. In einer Schrift, die wir nicht entziffern konnten. Manchmal nahm ich eines der Bücher aus dem Regal, öffnete es und ärgerte meine Schwester, indem ich so tat, als könnte ich darin lesen. Lange Zeit glaubte sie mir, obwohl sie meine List hätte bemerken können. Das gesprochene Wort hatte schon damals eine größere Bedeutung für sie als das geschriebene, eine Behauptung wurde kaum auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft. Man konnte es ihr als Dummheit auslegen, aber eigentlich weiß ich, dass sie einfach so loyal war, mir zu glauben und meine angebliche Überlegenheit zu akzeptieren, bloß, weil ich es mit Nachdruck sagte.
    »Wieso kannst du das und ich nicht?«, schrie sie dann.
    »Weil Papa es mir heimlich beigebracht hat«, ätzte ich.
    »Warum hat er mir nichts beigebracht!«
    Sie weinte und lief üblicherweise zu meiner Mutter, die mir ins Gesicht schlug, einmal, weil ich Vaters Bücher aus dem Regal genommen hatte, und dann noch einmal, weil ich log.
    Mutter wischte noch in der Eiseskälte mit bloßen Händen unsere Türschwelle. Ihre Haut wurde rissig und sprang auf, kleine rote Linien in dunklem Braun. Die Fingernägel rot und die Finger. Die Türschwelle wusch sie jeden Tag, damit sie für Vater sauber und frisch blieb, damit er, wenn er zurückkehrte, ein gemütliches Zuhause vorfand, das all die Jahre nur auf seine Heimkehr gewartet hatte. Eisern.
    Es war klar, dass jemand Vater ersetzen musste, aber er musste so ersetzt werden, dass man den Anschein bewahren konnte, Vater sei unersetzlich und im Übrigen sei dies auch nicht nötig.
    Als ich fortging, wusch Mutter unsere Schwelle, nachdem meine Füße über sie hinweggegangen waren, ohne dass ihr Gesicht einen milderen Ausdruck angenommen hätte. Sie wartet. Ich nicht. Ich finde ihn jeden Tag und verliere ihn im Morgengrauen aufs Neue. In jedem Aspekt eines Mannes, der mir begegnet, treffe ich ihn wieder und wieder, eifrig wie eine Gottesdienerin, die in den Ikonen ihren Heiland findet, in jeder Ikone denselben. In jedem Mann finde ich den Vater und suche doch das Kind. Wenn meine Schwester und meine Mutter nur mit einem Viertel ihrer Hingabe, mit der sie auf den Vater warteten, sich meinem Sohn gewidmet hätten, hätte diese Hingabe hinreichend genügt, um uns alle glücklich zu machen. Aber einer, der da ist, ist weitaus weniger spannend als einer, der verschwand.
    »Wann kommst du wieder, Mama«, hat er gesagt und geheult, bis Rotz über sein Gesicht geronnen ist, mit der Faust die Tränen im Gesicht verteilt. Trotzig vorgeschobene Unterlippe.
    »Bald, Kleines«, habe ich geantwortet.
    Auf der Oberlippe wuchs ihm ein dichter Schnurrbart, er hatte sich die gesamte Woche nicht rasiert, weil es ihm wieder schlecht ging. Er warf sich an mich und drückte sein
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