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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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    Prolog
    31.Oktober 2007
    Oddný Hildur schaute vom
Bildschirm auf, setzte die Kopfhörer ab und lauschte.
Draußen brauste der Wind, bei starken Böen knirschte das
Holzhaus, ansonsten war kein Laut zu hören. Merkwürdig.
Sie hatte das Gefühl, nicht allein im Haus zu sein.
Oddný Hildur lockerte ihre verspannten Schultern und schaute
auf die Uhr. Nur noch ein paar Minuten bis Mitternacht. Es war so
gut wie ausgeschlossen, dass so spät noch jemand
rübergekommen war; die meisten schliefen schon längst.
Also doch Einbildung. Wer sollte um diese Zeit noch unterwegs sein?
Oddný Hildur seufzte. Sie hatte ohne Pause gearbeitet, seit
sie nach dem Abendessen ins Bürogebäude gegangen war. Das
Wetter war umgeschlagen. Die schöne, eiskalte Stille hatte
sich in einen lärmenden Sturm verwandelt, der den Neuschnee
hochwirbelte. Die Wetterumschwünge in dieser Gegend
überraschten sie schon lange nicht mehr, auch wenn man sich
schwer daran gewöhnen konnte. Sie hätte sich besser an
die Sicherheitsvorschriften gehalten und den anderen Bescheid
gesagt, aber sie wollte nicht, dass jemand sie begleitete. Arnar
hatte eigentlich noch arbeiten wollen, sich aber zum Glück
nicht blicken lassen. Oddný Hildur war froh, allein mit sich
und ihrer Arbeit zu sein, denn einiges hatte sich verzögert
und war liegengeblieben. Wenn die anderen da waren, hatte man keine
Ruhe, besonders abends, nach einem langen Arbeitstag.
    Plötzlich jedoch beschlich
sie ein unangenehmes Gefühl. Normalerweise hatte sie keine
sehr blühende Phantasie; alles, was nichts mit eindeutigen
Fakten zu tun hatte, interessierte sie nicht. Das kam ihr als
Geologin zugute, stand ihr aber bei zwischenmenschlichen
Beziehungen manchmal im Weg. Oddný Hildur gähnte und
schüttelte das ungute Gefühl ab.
    Bevor sie den Computer
ausschaltete, checkte sie, ob ihr Mann Stebbi auf MSN war, aber
natürlich lag er längst im Bett. Aufgrund der
Zeitverschiebung war es bei ihm mitten in der Nacht, und er musste
um acht Uhr auf der Arbeit in Ártúnshöfði
sein und wegen des Berufsverkehrs sehr früh in
Hafnarfjörður losfahren. Sie hatten dort eine Wohnung
gekauft, was auch der Grund dafür war, dass sie diesen
stressigen Job angenommen hatte. Er war viel besser bezahlt als ein
vergleichbarer Job in Reykjavík, vor allem wegen der langen
Trennung von der Familie. Sie hatten sich erst entschlossen, eine
Wohnung zu kaufen, als die Immobilienpreise explodiert waren, und
nun kämpften sie mit dem Abbezahlen des Kredits. Zum
Glück hatten sie keinen ausländischen Kredit aufgenommen,
wie so viele Isländer, die jetzt unter dem Fall der Krone
litten. Als Oddný Hildur die Anzeige des Bauunternehmens
Bergtækni für den Job an der Ostküste
Grönlands gesehen hatte, hatte sie sich aus
Vernunftgründen beworben. Ihr Mann war nicht gerade begeistert
gewesen, denn das bedeutete, dass sie vier Wochen am Stück weg
war. Aber sie versuchte, die positiven Seiten zu sehen: gute
Bezahlung und zwischen den Schichten zwei Wochen frei. Am Ende
hatten sie sich darauf geeinigt, dass sie den Job für ein bis
zwei Jahre machen würde. Danach würden sie die
Familienplanung in Angriff nehmen, die sie aus finanziellen
Gründen erst mal aufgeschoben hatten. Doch bis dahin musste
Oddný Hildur in dem abgeschiedenen Camp an diesem
gottverlassenen Ort ausharren.
    Ein paarmal hatte Stebbi nicht
schlafen können und war noch online gewesen, aber diesmal
leider Fehlanzeige auf dem Monitor. Sie spürte ganz deutlich,
dass jemand auf ihren Nacken starrte. Natürlich wusste sie,
dass das nicht möglich war, musste aber dennoch allen Mut
zusammennehmen, um sich umzudrehen. Noch zwei Tage bis zum
Schichtende, sie war einfach ausgelaugt. Zu allem Überfluss
war die Wettervorhersage schlecht, und sie hatte Angst, bei
stürmischem Wetter nach Hause fliegen zu müssen oder
sogar festzusitzen. Außerdem ärgerte sie sich, dass sie
vorhin bei dem Streit derart heftig geworden war und den Mund so
voll genommen hatte.
    Oddný Hildur
erstarrte.
    War da jemand vor dem Fenster?
Entweder drehte sie durch, oder sie wurde wirklich beobachtet. Von
draußen konnte man sie in dem hell erleuchteten Büro gut
sehen. Ganz langsam drehte sich Oddný Hildur auf ihrem Stuhl
um und spähte in die schwarze Nacht hinaus, sah aber nur ihr
eigenes Spiegelbild in der Fensterscheibe. Ihr Gesicht wirkte viel
jünger, die weit aufgerissenen, angstvollen Augen verliehen
ihr etwas Kindliches, Vertrautes, das sie lange nicht mehr
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