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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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der einmal die Pflichten
gegenüber den Vorvätern übernehmen müssen.
Naruana schien das zu verstehen, aber sein rascher Absturz wies auf
das Gegenteil hin. Naruana hatte schon vorher Alkoholprobleme
gehabt, und der tragische Tod seiner Schwester stürzte ihn
endgültig ins Verderben. Und seine Mutter mit ihm. Igimaq
konnte es sogar ein wenig verstehen. Obwohl Usinnas Todeskampf
nicht lange andauerte, kroch die Zeit dahin, wenn man gezwungen
war, mit ansehen zu müssen, wie sich ein enger Verwandter
gnadenlos quälte und blau anlief, bis Blut aus Mund, Augen und
Nase quoll. Bei ihrem letzten Atemzug bildete sich eine rote Blase
zwischen ihren Lippen, die erst zerplatzte, als der Wind ihr das
schwarze Haar ins Gesicht wehte. Wenn Igimaq nicht so wütend
auf sie gewesen wäre, hätte er sie vielleicht
getröstet oder Naruana erlaubt, ihre Hand zu halten, worum sie
ihn unter Tränen bat. Doch als er später ihre Leiche
herrichtete, verflog seine Wut. Als er ihr die Halskette mit ihrem
Namen abnehmen wollte, sah er, dass sie weg war. Sie hatte die
Kette noch um den Hals getragen, als er sie mit Naruanas Hilfe auf
den Schlitten gehievt hatte. Igimaq hatte das Schmuckstück
für sie angefertigt, als sie noch ein kleines Mädchen
war. Er wusste, dass der Verschluss sehr fest war und nicht
aufreißen konnte. Aber er wusste auch, dass Usinna ahnte,
dass sie in der Ödnis ausgesetzt werden sollte, und er kannte
seine Tochter gut genug, um zu wissen, was sie mit der Kette
gemacht hatte. Sie hatte sie verschluckt, damit man sie
identifizieren konnte, wenn man sie irgendwann fand. Es war
undenkbar, dass er seiner toten Tochter den Bauch aufschlitzte, um
die Kette herauszuholen, ebenso undenkbar, wie sie zurück nach
Hause zu bringen, als sie ihn mit blutunterlaufenen Augen zum
letzten Mal darum anflehte. Das hätten die rastlosen Seelen
der Toten nie erlaubt. Naruana und Igimaq wurden nur verschont,
weil die Geister so gierig darauf waren, eine neue, junge Seele zu
sich zu holen. In ihrer Gier vergaßen sie Vater und
Sohn.
    Nichts von all dem hatten die
Männer, die die Höhle erforscht hatten, am eigenen Leib
erfahren. Sie hatten nicht auf die Geister gehört, die noch in
der Höhle wohnten, auch wenn sich ihre sterblichen
Überreste jetzt in Forschungslabors in Nuuk und anderswo
befanden. Natürlich hatten die Geister versucht, sich
bemerkbar zu machen, als in der Höhle alles umgegraben wurde,
hatten geheult und gerufen, aber ohne Erfolg. Die Ohren der Leute,
die die sterblichen Überreste aus dem Eis hackten, nahmen nur
das Oberflächliche wahr und überhörten
Geräusche, die ihren Ursprung im Unerklärlichen hatten.
Obwohl diese Leute den Wind hören konnten, von dem niemand
wusste, woher er kam und wohin er ging, und den man nicht anfassen
konnte.        
    Igimaq drehte sich um. Der
Eingang der Höhle war freigelegt, so dass er seit fast hundert
Jahren zum ersten Mal richtig zu sehen war. Der Sommer nahte, das
Eis auf dem Felsvorsprung über der Höhle war geschmolzen,
und die Eiszapfen in der Öffnung sahen aus wie
ungleichmäßige, scharfe Zähne, die in der Sonne
glitzerten und ihn aufforderten, in den geöffneten Schlund zu
schauen, die prüfen wollten, wie sich der große
Jäger bewähren würde, wenn er mit etwas konfrontiert
war, das keinen Herzschlag besaß, der sich anhalten
ließ.
    Der Hund jaulte wieder und
drehte den Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Igimaq
hatte die anderen Hunde zu Hause gelassen, sie mochten die Umgebung
der Höhle nicht, und Igimaq durfte sich von ihrem Gebell nicht
ablenken lassen. Er wusste, dass sich Naruana um sie kümmern
würde, falls er selbst nicht zurückkam. Sein Sohn und er
sprachen wieder miteinander. Naruana konnte zwar nicht akzeptieren,
was sie seiner Schwester Usinna angetan hatten, aber er ließ
sich nicht mehr von Gewissensbissen auffressen. Igimaq knüpfte
große Hoffnungen daran, dass sich der Junge endlich in die
richtige Richtung wenden, sich an Oqqapia binden und mit ihr Kinder
haben würde. Vielleicht wäre Usinnas Seele dann gerettet,
und wenn sie Glück mit ihren Kindern hätten,
bestünde sogar für Naruanas eigene Seele
Hoffnung.
    Die Knochen in der Felltasche
verrutschten, und Igimaq rückte sie wieder zurecht, hielt
jedoch inne, als ein leises, tiefes Weinen aus der Höhle
drang. Er erkannte die Stimme sofort, auch wenn sie leiser war als
früher. Es war Usinna. Ihre Seele rief nach ihm und fragte ihn
wieder einmal, warum er ihr nicht
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