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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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gesehen
hatte. Warum stellte sie sich eigentlich so an? Sie musste allein
im Bürogebäude sein; Arnar hätte bestimmt bei ihr
vorbeigeschaut, wenn er wirklich noch rübergekommen wäre.
Und natürlich war da draußen niemand. Ihre Kollegen
würden bestimmt nicht bei diesem katastrophalen Wetter im
Freien rumlungern und sie beobachten. Und die Dorfbewohner? War
vielleicht ein Einheimischer da draußen? Oddný Hildur
verfluchte sich selbst dafür, die Außentür nicht
abgeschlossen zu haben. Aber das war doch Unsinn! Natürlich
war niemand bei diesem Gegenwind den ganzen Weg vom Dorf zum Camp
marschiert; die Einzigen, die auf eine solche Idee kommen
könnten, waren die Säufer, und Oddný Hildur wusste
sehr wohl, dass die längst ihren Rausch ausschliefen. Obwohl
die Einheimischen den Bergtækni-Leuten gegenüber
misstrauisch waren, glaubte Oddný Hildur nicht, dass ihre
Abneigung so weit ging, dass sie ihnen etwas antun
würden.
    Und dennoch ließ gegen
jede Vernunft das unheimliche Gefühl nicht nach. Oddný
Hildur rollte den Stuhl an die Wand und schaltete das Licht aus,
zögerte jedoch, aus dem Fenster zu schauen. Schließlich
gab sie sich einen Ruck.
    Ein Windstoß fegte ums
Haus, dann legte sich der Sturm ein wenig. Oddný Hildur
stockte der Atem, als sie ihn sah. Ein großer, zottiger
Schlittenhund saß auf dem Parkplatz hinter dem Haus und
glotzte sie an. Seine Ohren zuckten im Wind, alles andere an ihm
war wie erstarrt. Ihre Augen begegneten sich, der Hund stierte sie
unverwandt an. Wie hypnotisiert schaute Oddný Hildur
zurück, während ihr das Herz bis in den Hals schlug. Eine
der ersten Anweisungen, die sie bekommen hatte, war, sich den
Schlittenhunden nicht zu nähern, sie nicht zu streicheln und
ihnen nichts zu fressen zu geben. Sie waren Arbeitstiere, die ein
ganz anderes Verhältnis zu Menschen hatten als Haustiere. Das
hatte Oddný Hildur indirekt miterlebt, als sie kurz nach
ihrem Arbeitsbeginn eine Mitfluggelegenheit mit einem
Krankentransport von Grönland nach Reykjavík bekam. Das
war das erste und letzte Mal, dass sie mit einem solchen Transport
mitgeflogen war. Ein kleines Mädchen war in eine Gruppe von
Schlittenhunden hineingelaufen und mehrmals ins Gesicht gebissen
worden. Ihr Weinen hallte während des gesamten Flugs durch die
Maschine und lag Oddný Hildur immer noch in den Ohren,
ebenso wie die verzweifelten Versuche der Mutter, das Kind zu
beruhigen. Oddný Hildurs Magen verkrampfte sich bei der
Erinnerung daran, wie das Mädchen ausgesehen hatte, als sie es
ein paar Monate später bei einem ihrer seltenen Ausflüge
ins Dorf mit einer Puppe am Straßenrand hatte spielen sehen.
Vielleicht war der Hund da draußen ja einer von denen, die
das Mädchen angegriffen hatten. Die Hunde waren damals nicht
eingeschläfert worden. Oddný Hildur überlegte, ob
sie ihren Stolz überwinden und Gísli anrufen sollte. Er
war für die Sicherheit auf dem Gelände verantwortlich,
war pflichtbewusst und unglaublich hilfsbereit und würde sie
bestimmt anstandslos zu ihrer Wohnung hinüberlotsen. Aber
Oddný Hildur hatte keine Lust auf das Geläster ihrer
Kollegen, weil sie mitten in der Nacht jemanden aus dem Bett holte,
nur damit er sie ein winziges Stück begleitete. Sie war
ohnehin schon unbeliebt genug. Nein, sie würde das allein
schaffen.
    Man hatte ihr gesagt, die Hunde
würden einen nicht sofort angreifen, sie seien völlig
ungefährlich, solange man sie in Ruhe ließ. Oddný
Hildur würde das kurze Stück zielstrebig
hinübergehen, der Hund würde ruhig sitzen bleiben und
dann in der Dunkelheit verschwinden. In Windeseile wäre sie in
ihrer Wohnung und läge im Bett. Sie schaltete den Computer aus
und machte sich bereit zu gehen. Bevor sie in den Flur trat,
schaute sie noch einmal aus dem Fenster und sah, dass der Hund sie
immer noch anstarrte. Dann neigte er plötzlich den Kopf, so
als wundere er sich darüber, dass sie aufgestanden war. Jetzt
wusste er, dass sie hinausgehen wollte. Er würde bestimmt vor
der Tür auf sie warten. Der Hund schien jedoch nicht so schlau
zu sein und blieb einfach sitzen. Oddný Hildur wollte gerade
die Jalousie zuziehen, als das Tier aufjaulte, so dass sie
zusammenzuckte und die Schnur der Jalousie aus ihrer Hand glitt.
Sie hörte entferntes Bellen, doch was sie noch mehr
beunruhigte, war die plötzliche Bewegung des Tieres.
Oddný Hildur ließ die Jalousie offen und eilte in den
Flur. Auf dem Weg zur Außentür schaltete sie das Licht
in Arnars Büro aus; die
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