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1073 - Liebling der Toten

1073 - Liebling der Toten

Titel: 1073 - Liebling der Toten
Autoren: Jason Dark
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Er war spät gekommen. Trotzdem hatte er es geschafft, noch rechtzeitig hier zu sein. Hardy spürte es. Deshalb war er überhaupt hier. Deshalb hatte man ihn gerufen. Der junge Mann war noch nicht lange tot. Es war noch etwas von ihm hier, das spürte Hardy. Er nahm es auf wie ein Hund, der eine Fährte gewittert hatte. Seine letzten Gedanken, all das, was ihm da durch den Kopf gegangen war, lag zwischen den Wänden als unsichtbare Botschaft gespeichert.
    Die Frau hatte sein Eintreten gehört, aber nicht einmal den Kopf gedreht.
    Erst als sich Hardy in Bewegung setzte, blickte sie zu ihm und sah die schlanke Gestalt, die mit kleinen Schritten näherkam. Sie sprach nicht und wartete nur.
    Hardy wußte, wie er sich zu verhalten hatte. Er setzte seine Schritte sehr langsam, nickte der Frau auch zu. Sein Gesichtsausdruck zeigte aufrichtige Anteilnahme. Nichts war an ihm gespielt. Dieser Mann litt tatsächlich.
    Neben dem Bett blieb er stehen. Die Frau schaute zu ihm hoch. Sie sah sein schwaches Lächeln. Mit einer schon zärtlichen Geste strich Hardy durch das graublonde Haar.
    »Es tut mir sehr leid, Madam.«
    Sie hatte aufgehört zu weinen, hüstelte und zuckte mit den Schultern.
    »Danke. Es war ja nicht zu ändern. Dabei ist er noch so jung.«
    »Ich weiß, daß er noch hätte leben können, aber seine Mörder werden bestraft werden, das verspreche ich Ihnen. Sie haben recht getan, sich an mich zu wenden. Ich werde Ihnen helfen können, das verspreche ich Ihnen. Und auch ihm.«
    »Danke.«
    »Dann möchte ich Sie bitten, mich jetzt mit Kevin allein zu lassen.«
    Die Frau zögerte. Es fiel ihr nicht leicht, Abschied zu nehmen. Sie warf einen letzten Blick auf den Zwanzigjährigen, sie strich über sein verklebtes Haar, danach über die Stirn, mußte wieder weinen, riß sich aber zusammen und stand auf.
    Hardy trat zur Seite, um sie vorbei zu lassen. Sie schaute ihn nicht mehr an und verließ das Zimmer in der gebückten Haltung einer alten Frau, den Blick zu Boden gesenkt.
    Der Besucher wartete ab, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
    Er wischte seine feuchten Handflächen an den Hosenbeinen ab. Erst danach wandte er sich dem Toten zu.
    Er setzte sich auf den frei gewordenen Stuhl. Die Lampe mit dem gelben Schirm stand hinter dem Kopf auf einem kleinen Nachttisch. Hardy rückte sie zurecht, bis das Licht etwas besser auf das Gesicht der Leiche fiel.
    Er wollte alles sehen. Er mußte viel von dem Toten wissen. Er wollte in sein Gesicht schauen. Dem letzten Ausdruck, den es zeigte, konnte er oftmals bestimmte Informationen entnehmen, die für seine weitere Tätigkeit wichtig waren.
    Hardy bewegte sich nicht. In seiner Haltung glich er ebenfalls einem Menschen, der als Leiche auf einen Stuhl gesetzt worden war. Er wollte und durfte jetzt nicht gestört werden, um seine Fähigkeiten voll ausspielen zu können.
    Er mochte die Toten. Und sie mochten ihn. Er war so etwas wie ein Liebling der Leichen, denn sie akzeptierten ihn und hatten ihm auch noch so viel zu sagen. Allerdings »sprachen« sie auf eine bestimmte Art und Weise zu ihm die kein normal denkender Mensch richtig nachvollziehen konnte.
    Um das Unsichtbare kümmerte er sich nicht, sondern er konzentrierte sich auf das Gesicht. Es war, wie er es sich vorgestellt hatte. Die Züge zeigten keine Entspannung. In den letzten Sekunden des irdischen Daseins mußte der junge Mann Schreckliches erlebt haben.
    Wahrscheinlich war das an seinem geistigen Auge vorbeigezogen, was ihn in den letzten Jahren so stark beschäftigt hatte. Nahezu verbissen hatte er den Mund verzogen, obwohl dieser noch offen stand. Kevins Mutter hatte dem Toten nicht die Augen geschlossen, so glotzte er starr in die Höhe, als wollte er sich ein Bjld unter der Decke anschauen. Die Nase war lang und spitz geworden, die Wangen waren eingefallen, und seine Haut sah bleich aus wie altes Rinderfett, mit einem gelblichen Stich.
    Hardy hob beide Hände an. Erst als sie über Kevins Gesicht schwebten, schloß er selbst die Augen. Er war jetzt voll konzentriert. Stärker ging es nicht mehr, und er spürte schon sehr bald, daß sich etwas in seinem Umkreis tat.
    Da war eine gewisse Unruhe vorhanden. Nicht zu hören, nur zu spüren.
    Etwas umwehte ihn, hielt ihn fest, war herangeschwebt und ließ sich auch nicht vertreiben.
    Etwas Fremdes. Etwas, das nicht sichtbar war. Eine Aura, eine sehr starke Strahlung, die von der Leiche ausging. Es gab wohl kein Instrument in der Welt, das diese Aura exakt
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