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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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anderen Zimmer lagen im
Dunkeln.
    Im Vorraum schlüpfte sie in
eine dicke Daunenjacke, die bei diesem Höllenwetter von
unschätzbarem Wert war. In Gedanken noch bei dem entstellten
Gesicht des kleinen Mädchens, nahm sie einen Schal vom Haken
und wickelte ihn sich fest um den Kopf, so dass nur noch ihre Augen
zu sehen waren. Dann zog sie Handschuhe an und suchte sich die
wärmsten Stiefel heraus. Ihre Schuhe waren noch nass, denn sie
hatte wieder einmal vergessen, sie zum Trocknen umzudrehen.
Während sie gearbeitet hatte, war der Schnee an den Schuhen
geschmolzen, und nun waren sie nass und klamm. Dasselbe galt
für ihre Mütze, die auf den feuchten Fußboden
gefallen war. Deshalb nahm Oddný Hildur irgendeine
Pelzmütze vom Haken. Wenn sie morgen früh genug wieder im
Büro wäre, würde niemand die Kleidungsstücke
vermissen. Sie stopfte ihre Hosenbeine in die Stiefel und richtete
sich ungelenk auf. Jetzt war sie so dick eingepackt, dass sie sich
kaum bewegen konnte. Es würde nicht einfach sein, gegen den
Wind anzukämpfen. Sie holte tief Luft und öffnete die
Außentür. Da schoss ihr plötzlich durch den Kopf,
dass der Hund sie womöglich warnen wollte. Dass sie gar nicht
vor ihm, sondern vor etwas ganz anderem Angst haben
musste.          
    Wahrscheinlich lag alles nur an
der Videoaufnahme, aus der sie versucht hatte, schlau zu werden.
Der Film war kurz vor dem Abendessen zwischen den Kollegen
herumgemailt worden und zeigte die beiden Bohrmänner Bjarki
und Halldór bei irgendwelchen Blödeleien im
Raucherzimmer. Oddný Hildur wusste nicht, wer ihn
aufgenommen hatte, vielleicht hatten die beiden die Kamera auch
aufgestellt, denn außer ihnen hielt es ohnehin kaum jemand in
dem rauchgeschwängerten Kabuff aus. Das blöde
Herumgealbere hatte sie dabei allerdings weniger interessiert als
das, was hinter den Männern am Fenster vorbeigehuscht war. Da
Oddný Hildur sich nicht viel aus solchen Späßen
machte, hatte sie die Mail vor dem Essen nicht mehr geöffnet
und ihre Kollegen nicht danach fragen können. Gehörte
diese Aktion hinter den Männern zu dem Gag? Sie hatte
versucht, den Film an der richtigen Stelle anzuhalten, um die Sache
genauer begutachten zu können, aber die Bewegung war zu
schnell.
    Es sah aus wie ein Mensch mit
einer Maske oder merkwürdigen Kopfbedeckung, und nachdem er
verschwunden war, befand sich ein roter Streifen auf der
Fensterscheibe. Der Mensch – oder was auch immer es gewesen
war – hatte mit der Hand etwas Rotes über die Scheibe
gezogen. Aber was? Die schnelle Bewegung und der dunkelrote,
ungleichmäßige Streifen bildeten einen unheimlichen
Hintergrund für die Späße der Bohrmänner.
Vielleicht würde ihr das morgen früh alles ganz harmlos
vorkommen, aber in diesem Moment wünschte sich Oddný
Hildur, sie hätte eine Erklärung dafür. Aus
unerfindlichen Gründen war sie nicht in der Lage, ins
Raucherzimmer zu gehen und sich das rote Etwas anzuschauen. Weil
sie Angst hatte, es könnte Blut sein.
    In der Türöffnung
atmete Oddný Hildur tief durch und vergrub die Hände in
den Anoraktaschen. Der Hund war nirgends zu sehen. Zum letzten Mal
ging sie hinaus in das dunkle Schneegestöber.

1.
Kapitel
    18. März
2008 
    Dóra
Guðmundsdóttir legte die Aufstellung über die
abgeleisteten Sprechstunden des letzten Monats beiseite. Alles
andere als eine inspirierende Lektüre. Bragi, der
Miteigentümer der Anwaltskanzlei, die beiden Referendare und
sie hatten zwar viele Fälle, aber die meisten waren belanglos
und schnell bearbeitet. Das war zwar gut für die Mandanten,
brachte jedoch nicht viel ein. Aber Geld war schließlich
nicht alles. Die interessantesten Fälle waren anspruchsvoll
und arbeitsintensiv. Dóra stöhnte leise. Sie traute
sich nicht, laut zu seufzen, aus Angst, einer der beiden jungen
Referendare könnte sie hören. Wenn die herausfänden,
dass sich Dóra Sorgen um den Betrieb machte, würden sie
womöglich erwägen, die Stelle zu wechseln, und das durfte
auf keinen Fall passieren. Bragi und Dóra würden die
Kanzlei niemals zu zweit bewältigen können, geschweige
denn den Job der Sekretärin des Grauens. Auch wenn es schwer
vorstellbar war, dass irgendjemand diesen Job schlechter machen
könnte als Bella, riss Dóra sich nicht darum, sie
abzulösen, und auch Bragi würde alles tun, um sich vor
dem Telefondienst zu drücken. Deshalb mussten sie sich mit der
Personalsituation zufriedengeben – mit den Referendaren, die
sich mehr für YouTube als für
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