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Die Betrogenen

Die Betrogenen

Titel: Die Betrogenen
Autoren: Michael Maar
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versuchte, sich in die große Idee einzufinden. Was da nicht alles wimmeln würde, wenn man die große Platte wegwälzte! Bittner hatte recht, bestimmt viel Unerfreuliches. Wer war wohl insgeheim in Karl verliebt? Vielleicht trauerte Carmen ihm in schlaflosen Nächten nach?
    Was die angebliche Neugier anging, die war ihm an Bittner in letzter Zeit allerdings kaum aufgefallen. Fühlte er sich nicht doch in den Gebieten am wohlsten, in denen durch Meinungen alles fest abgepflockt war? Weit verstreute Gebiete natürlich, denn Meinungen hatte Bittner so viel wie Kenntnisse – aber gut. Daß ihn das Unbehagen am Tratsch beschäftigte, glaubte Karl ihm sofort. Es wurde ja wirklich viel über ihn geredet – nicht nur über seine Affairen und seinen öffentlich ausgestellten Hochmut. Sogar daß er Geisterphotographie betrieb, wurde ihm nachgesagt, noch dazu von Manteuffel, der früher sein engerFreund gewesen war. Aber darin lag kein Widerspruch; die ehemaligen Freunde waren die schlimmsten Lästerer. Wenn es je zur großen Enthüllung käme, würde Bittner unter seiner Perugiabräune ganz schön erblassen, das sah er schon richtig.
Schöne Töchter
    Sie hatten die Gaststätte am Fluß erreicht. Das Licht spielte auf dem Wasser, in dem drei Ruderboote darauf warteten, gegen geringes Entgelt vermietet zu werden. Blauregen überwucherte den ochsenblutfarbenen Fachwerkvorbau, in dem Bier und Apfelwein ausgeschenkt wurden. Aus den weiß gesprenkelten Hecken strömte der Duft von Jasmin.
    Karl setzte sich mit Bittner, der seine Zigarette in einem zierlichen kleinen Bogen wegschnippte, wie tausendfache Übung ihn geformt hatte, an einen der letzten freien Tische an der Flußseite. Die in eine Plastikhaut eingeschweißte Speisekarte war schmal. Daß Bittner Schinkennudeln orderte, war für Karl, der dennoch vorsichtshalber Salat bestellt hatte, kaum noch eine Überraschung. Schon bei einem gemeinsamen Hotelfrühstück war ihm die reiche Beigabe von Würstchen und gebratenem Speck aufgefallen,die Bittner sich zum Rührei servierte. Auf Reisen verzichte er grundsätzlich auf seine fleischlose Kost, hatte er damals auf Karls offenbar verräterischen Blick hin bemerkt. Ihr Spaziergang heute war zwar keine Reise im strengen Sinn, aber in diesem strengen Sinn hatte Bittner seinen im Darwin-Buch verfochtenen Vegetarismus wohl auch nie verstanden.
    Zwei Wildenten flatterten mit schnell schlappendem Flügelschlag und Wassertröpfchen versprühend auf. Paarten die sich nicht auf Lebenszeit? Karl meinte, das einmal gelesen zu haben. Als die Kellnerin mit ihrem Tablett über den knirschenden Kies kam, warf sie Bittner einen Seitenblick zu, der nicht nur seiner Berühmtheit galt – Karl war für sie Luft, das war nicht zu verkennen. Sie hatte leichte Schweißperlen über der Oberlippe; wahrscheinlich eine studentische Hilfskraft, die das Krügeschleppen in der Sonne nicht gewohnt war. Auch ihr Brustansatz im Dekolleté schimmerte feucht.
    Bittner hatte den Blick bemerkt und war in ein heiteres Schweigen verfallen. Karl beobachtete, wie eine Ameise in typischem Ameisen-Zickzack von der Tischplatte floh. Hinter ihm hämmerte ein Specht. Ob es ein Musikinstrument gab, das dieses hell-dumpfe Stakkato nachtrommeln könnte? Aus dem Bayreuther Graben klänge es gewiß eindrucksvoll.
    Grazil wickelte Bittner ein paar Bandnudeln um seineGabel. Er gehörte zu den Menschen von natürlicher Anmut – aber es war Training und nicht Natur –, bei denen man die eigentlichen Essensvorgänge kaum wahrnahm. Er müsse ein Geständnis machen, brach er sein Schweigen und tupfte sich den Mund mit der Papierserviette ab.
    Karl hob höflich die Augenbrauen und zerkrümelte ein Stück Weißbrot. Auf Sätze, die mit «Ich gestehe …» begannen, folgten nie echte oder gar peinliche Geständnisse, im Gegenteil, oft folgte sogar Selbstschmeichlerisches. Man gestand nicht, daß man schnarchte oder an Fußpilz litt, man gestand seine Schwäche für das Spätwerk Carl Orffs. In diesem Fall sollte Karl sich getäuscht sehen.
    Bittner müsse das Geständnis machen, daß er beim letzten Besuch seiner Tochter gespürt habe, daß ihn nichts mehr mit ihr verbinde.
    Seiner Tochter?
    Ja, der Tochter aus einer frühen Beziehung. Sie war getrennt von ihm in Amerika aufgewachsen.
    Karl hatte von der Existenz dieser Tochter gar nichts gewußt; da sah man wieder, was ihm zum Biographen fehlte.
    In Amerika, wie gesagt, was leider seine Spuren hinterlassen habe. «Ihr Deutsch!»
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