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Die Betrogenen

Die Betrogenen

Titel: Die Betrogenen
Autoren: Michael Maar
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blieb stehen. «Lieber Freund», sagte er mit einem Seufzer, «genießen Sie Ihre Jugend! Vermissen Sie sie nicht erst, wenn sie davonspaziert ist, wiegenden Gangs wie eine grue…» Er machte eine kleine Handbewegung, als verscheuche er eine Fruchtfliege.
    Wenn er die Wahrheit sagen dürfe: seine Gesundheit sei nicht die prächtigste. Und er war in einem Alter, in dem Vorahnungen nicht mehr als bloße Hypochondrie abzutun waren.
    Karl fand nicht, daß man ihm etwas angesehen hätte. Bittner wirkte weder matt noch schlaff, hatte keine graue Strähne im Haar, wobei da nachgeholfen worden sein mochte; auch sein Blick hatte das zart Hypnotisierende nicht verloren und war so weich schimmernd und bezwingend wie je. Daß ein Mann mit diesem Blick Erfolg bei den Frauen hatte, ja die Bewerberinnen geradezu abschütteln mußte, war nicht verwunderlich. Auch jetzt sah er Karl mit diesem warmen und durchdringenden Blick an, der wie eine schnell wirkende Spritze eine kleine Welle des Wohlbehagens auslöste. Und hatte er das nicht schon immer gekonnt: jedem das Gefühl einzuträufeln, in diesem Moment gäbe es im Universum niemand Wichtigeren als ihn, den jeweiligen Gegenüber, der sich nur bessernicht allzu viel darauf einbildete, weil an seiner Statt genauso gut Herr Hinz oder Frau Kunz da stehen und sich an der Nase kratzen könnten, wie Karl es jetzt tat, während er darauf wartete, daß Bittner endlich weiterging? Für diesen Akt des Einträufelns mußte Bittner noch nicht einmal körperlich präsent ein, er gelang auch über Kupferoder Glasfaserdraht am Telephon. Wenn Karl ihn anrief, meldete Bittner sich jedesmal mit einem unwirschen «Hallo?», um nach einer kleinen Kunstpause ein entzücktes «Ja – Herr
Lo
rentz!» zu hauchen, mit einem Akzent verblüffter Andacht, als wäre es Anfang Oktober und Karl der Sekretär der Schwedischen Akademie. Karl vermutete, daß er mit jedem Anrufer so verfuhr, sein Begrüßungshallo vielleicht sogar absichtlich knurrig anlegte, um das Hochschnellen des Herzlichkeitspegels um so effektvoller steuern zu können.
    War er eigentlich auch ein Trickser? Dann aber einer mit
t
, ein Trickster und Magier; einer wie der berühmte kolumbianische Kartenkünstler, der seine Technik im Alter so ätherisch verfeinert hatte, daß er nur noch Anweisungen gab, wer welche Karte ziehen und sich merken möge, den Stoß selbst aber nicht einmal mehr berührte.
Stachelrochen
    Das Alter! Bittner hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Er beschönigte nichts, und Karl lauschte auf die Nachrichten aus dem fremden Kontinent, den er wohl oder übel selbst würde bereisen müssen, wobei es eher eine Landzunge war, die ins Meer mündete. Nein, erfreulich klang das alles nicht. Schwarzer Schlamm sickere durch die Spanten des rissigen Kahns, zitierte Bittner Gott weiß wen. Die Reise zu den gelben Quellen rücke näher. Das Alter, erklärte Bittner, höhle die Persönlichkeit aus. Nur noch das Typische werde weiter abgehaspelt und zur Schau gestellt, aber die Verbindung zum Innern löse sich allmählich auf, weil dieses Innere selbst sich aufzulösen beginne. Das Jenseits wehe schon durch die Ritzen der Persönlichkeit – «pfeift, gegen Ende».
    Bittner war wieder langsamer geworden. «Und das ist noch die harmlose Variante.» Bei seinem Vater war es noch schlimmer gewesen. Der hatte einen Schlaganfall zwar körperlich halbwegs überstanden, war aber seither bei geringsten Anlässen in Tränen ausgebrochen, wie Mütter nach der ersten Entbindung.
    Karl dachte an seinen Vater; manchmal konnte er ihn sich kaum noch vorstellen. In dem Hotel in Antwerpen, wo er einen Verleger treffen wollte, hatte es keinen Rauchmeldergegeben. Asphyxie … Zuletzt noch die gnädigere Variante. Seine Mutter dachte immer, er schlafe schon fest, aber er hatte jede Nacht gehört, wie sie leise schluchzte. Bald danach war er zum Bücherwurm geworden oder zum Lese-Opossum, wie sie ihn zu nennen pflegte; als Poetin hätte sie nie das rattige Wort benutzt.
    Der Vater, sagte Bittner, hatte am Schluß im Rollstuhl gesessen. Vielleicht war das der Grund, warum Bittner bei seinem letzten Besuch in Ischia von der kleinen Kapelle so angerührt gewesen war – architektonisch nichts Besonderes, ein bescheidenes Kapellchen, das es in keinen Touristenführer geschafft hatte. Und dort standen in einer Seitennische, in der Kerzen tropften, lauter Krücken. Von wem sollte es sein, dieses Krückenwäldchen, wenn nicht von den Lahmen, die der dafür
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