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Die Betrogenen

Die Betrogenen

Titel: Die Betrogenen
Autoren: Michael Maar
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I.

    E s war die alte Geschichte. Karl wußte es und hatte es sich schon oft gesagt, daß er nie einen Bleistift in die Innentasche seines Jacketts stecken sollte, auch nicht mit der Spitze nach oben, denn dabei blieb es nie lange. Die Spitze fand ihren Weg nach unten und fräste allmählich ein Loch in die Naht, der Stift wanderte unbemerkt durchs Innere und landete als harter schmaler Stiel im unteren Jackensaum, wo Karl ihn eine Weile zu mißachten versuchte, bis ihm die Geduld riß und er ihn wieder in die Senkrechte zwang, am Rand des Futters hochmanövrierte und durchs Schlupfloch zurück in die Tasche schob. Das konnte einige Minuten und Fehlversuche in Anspruch nehmen, besonders das Einfädeln am Schluß war schwierig. Karl gelang es gerade noch rechtzeitig, als der Zug schon langsam auf seinem Gleis einfuhr. Der eine Höcker des weißen Lindwurms verriet, wo sich das Bordrestaurant befand, das sogar dort zum Halt kam, wo es der Wagenanzeiger angekündigt hatte. Karl hatte wenig Appetit nach der Trauerfeier und war abends mit Bittner zum Essen verabredet; aber das war kein Grund, nicht wie immer im Speisewagen zu sitzen.
    Die Fahrt würde er nicht so schnell vergessen, und nicht nur, weil man nicht jeden Tag seinen Verleger verlor. Als er sich gerade an einem Zweiertisch niedergelassen und sein Jackett ausgezogen hatte, sah er auf dem Gang von weitem einen Mann, der auf den Speisewagen zusteuerte, und schaute sofort wieder weg. Das war ja ganz furchtbar, er mußte sich getäuscht haben.
    Die durchsichtige Doppeltür öffnete sich leise zischend, und der Mann trat ein. Karl konnte kaum hinsehen und mußte es wie unter Zwang doch immer wieder tun. An der linken Kopfseite ragte dem älteren Herrn auf Wangenhöhe eine enorme Geschwulst aus dem Gesicht. Er hatte sich zwei Tische weiter an einen Platz gesetzt und Tee mit Milch bestellt.
    Konnte man das nicht wegoperieren? Dumme Frage – offenbar nicht. Karl schaute verstohlen wieder hinüber; der seitlich herausgewachsene Zapfen oder Ballon stand immer noch ab. Er war so groß wie eine Kiwi, sofern Karl das von seinem Platz aus beurteilen konnte, aber leicht rötlich gefärbt. Der Mann rührte mit einem Löffel in seinem Tee; der Kellner hatte sich nichts anmerken lassen. Ein Glück, daß keine Kinder im Abteil waren, man konnte sich das Getuschel und das
Psst!
vorstellen, wenn die Eltern sie zum Schweigen bringen mußten. Hätte er nicht den Zapfen gehabt, sähe er aus wie ein gediegener Geschäftsmann, zum grauen Anzug trug er eine gelbe Krawatte.
    Das Überraschendste war, er wirkte nicht einmal tief unglücklich. Vielleicht vergaß er es für Momente; er sah sich ja nicht ständig im Spiegel. Dennoch mußte es anstrengend sein, er vergaß es doch wohl weniger, als daß er es verdrängte, und das war kräftezehrend; er mußte es auch immer spüren, wahrscheinlich sogar in der Kopfhaltung leicht gegentarieren, das Ding wog ja sicher nicht wenig. Es schien etwas gerötet und hatte ingwerknollenartige Scharten und Erhebungen. Ob es auch juckte? Kein Wunder, daß er jetzt eine Zeitung aufschlug, hinter der er sich bis auf weiteres verbarg. Wer sollte ihn, fragte Karl sich mit leichtem Schaudern, küssen wollen?
    Nicht auszumalen, hatte er gedacht, während er die getüpfelten Schneewolken am Himmel betrachtete. Wie gut es einem doch ging!
    Am Abend traf er Bittner, der gerade in Berlin war, in einem kleinen chinesischen Lokal. Bittner hatte nicht zur Beerdigung kommen können und auch deshalb um das Treffen gebeten, um sich von Karl davon berichten zu lassen. Der Tod ihres Verlegers würde das Gespräch nun nicht erschöpfen, selbst wenn es darum kreisen sollte. Karl hoffte, daß Bittner sich nicht höflich nach seiner Frau erkundigen würde; das war noch zu frisch, als daß er darüber hätte reden wollen. Wegen der Biographie nachhaken würde er wohl noch nicht. Aber das Wichtigste war ja immer noch sein Werk. Seinerseits höflich fragte Karl,während er seine Papierserviette entfaltete, woran Bittner denn gerade sitze?
    Oh, erst vorletzte Woche habe er das Mozart-Manuskript an den Verlag geschickt, das Gabriel nun leider nicht mehr lesen würde. Das Haus würde sich darum kümmern müssen. Er war schon gespannt, in welche Fettnäpfe der Lektor dieses Mal tappen würde. Das werde Karl, der ja erst am Anfang stehe, auch noch zu schmecken bekommen. Hatte er ihm erzählt, wie dieser Lektor sich bei ihm durch einen einzigen Apostroph für alle Zeiten unmöglich
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