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Die Betrogenen

Die Betrogenen

Titel: Die Betrogenen
Autoren: Michael Maar
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ihn verdächtigte, gerade mit diesem Sinologentum ein bißchen zu kokettieren.
    «Tja», sagte Bittner und räusperte sich. «Malraux … Die Geschichte kann stimmen, obwohl seine Memoiren durchweg verlogen sind und er nie einen chinesischen Kommunisten gesehen hat. Das haben die Biographen inzwischen nachgewiesen. Nun ja, die Biographen!» Bittner zuckte wieder kurz mit den Schultern, als ziehe jemand an den Epauletten.
    Da war es, das Thema; Karl hatte es befürchtet und kommen sehen.
    Eine nicht unebene Aufgabe, fuhr Bittner fort, halb Historiker sein zu müssen und halb Romancier. Einigen immerhin gelänge sie sehr beachtlich.
    Bittner verzog das Gesicht.
    Er hadere gewiß nicht damit, daß Karl noch nicht damitbegonnen habe, er möge sich alle Zeit der Welt damit lassen.
    Ah ja? Er haderte nicht damit? Karl nickte unmerklich, da sah man es wieder. Wurden die meisten Sätze nicht wahrer, wenn man sie stillschweigend verneinte, beziehungsweise ihnen ihre Verneinung wieder entnahm? Wenn es im Lied hieß «Ich grolle nicht», bedeutete es, daß der Dichter grollte – wie sonst wäre er auf die Zeile verfallen? Wahrscheinlich hatte er guten Grund zu grollen, und vielleicht kämpfte er dagegen an. Vielleicht war er verlassen worden. «Ich bemühe mich, nicht allzu sehr zu grollen» wäre die wahrhaftigere Liedzeile gewesen, wenn auch die weniger eingängige. Wie kam Bittner wohl auf das Hadern? Die wichtigste Botschaft eines Satzes bestand nun einmal darin, welche Idee er behandelte – da gab es unzählig viele, das war ein Ozean, aus dem man sich ein kleines glitzerndes Fischchen herausangelte, und damit war es auch schon getan. Ob diese Idee dann in der bejahenden oder der verneinenden Form dargeboten wurde, war vergleichsweise unwichtig; verräterisch war das Fischchen selbst. Oder was sollte heißen: «Ich will mich ja nicht beklagen»? Was hieß: «Ich will mich ja nicht einmischen»? Daß sich jemand beklagte und sich jemand einmischte. Was verriet die Zeitungsmeldung: «Lösegeld wurde nicht bezahlt»? Und worauf verwies das Schild
No Exit
?
    Bittner sah ihn musternd an, als errate er seine Gedanken. Nun wolle er aus seinem Herzen aber auch keine Mördergrube machen, sagte er und rieb sich den Solarplexus. Selbstverständlich würde er sich freuen, wenn er das Erscheinen des Buches noch erleben dürfe – bei einem so feinen und fühlsamen Kenner wie Karl. Da könnte er ganz beruhigt darüber sein, daß nicht er als Arthur Bittner im Vordergrund stehen würde, sondern sein Werk, wie es eben nur diese eine fehlerhafte Persönlichkeit habe hervorbringen können.
    Ein Sonnenstrahl, der durch das Blätterdach geschlüpft war, legte ein Lichtchen auf eine kaum pfenniggroße kahle Stelle in seinem Schopf.
    Karl protestierte gegen das «fehlerhaft» und versicherte, die Würde der Aufgabe sei ihm nur allzu bewußt, genau das aber mache sie auch so schwer, und dann erdrücke ihn auch die leidige Agentur …
    Müde herausgeredet. Agentur, Agentur – schon andere Werke waren nebenbei in den Randstunden vorangetrieben worden, wie Gabriel es gern genannt hatte. Nein, da waren andere Hemmnisse im Spiel, und es allein auf die Agentur und die Wiedenkopf zu schieben, war nicht ganz korrekt.
    Es war Karl nicht unlieb, daß Bittner in der kleinen Gesprächspause die Lippen spitzte und zu pfeifen begann.
    «Englische Suite in g–Moll, eins meiner Lieblingsstücke. Sie kennen das?»
    Seine Augen blitzten wieder; Karls Antwort wartete er erst gar nicht ab.
    «Da trällert die erste Stimme los, wie ein Wanderer, der mit Stock und Rucksack ins Blaue zieht, frohgemut und fast ein bißchen behäbig dabei …» Bittner versuchte pfeifend, die trällernde Oberstimme wiederzugeben, und markierte mit dem Zeigefinger den Takt.
    «Aber die Unterstimme», erklärte er, «die ist der eigentliche Witz und Kontrapunkt. Denn sie hat mehr gesehen als der fröhliche Wandersmann, will ihm aber nicht die Illusionen nehmen. Sie nickt nur milde und streicht ihm über den Kopf: Ach, wenn du wüßtest … Aber du wirst es noch früh genug erleben.»
    Bittner versuchte sich jetzt auch an diesem in Moll gehaltenen Kopftätscheln. Ein rostfarbener Schmetterling taumelte vorbei, in den Flügelspitzen zwei weiß eingefaßte Purpurkringel, doch Bittner hatte keinen Blick dafür. Nach einem letzten Triller hatte er das Pfeifen eingestellt und sich aus seiner Jackettasche eine Zigarette gefischt.
    Diese zwei Stimmen zusammen, die Hauptstimme so arglos und
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