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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir
Autoren: S Jio
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Prolog
    H allo?«
    Verdutzt schlug ich die Augen auf, als ich die vertraute Stimme hörte – sie klang angenehm, aber so vollkommen fehl am Platz. Jennifer, meine Enkelin. Dann dachte ich: Wo bin ich? Oder besser: Was macht sie hier? Verwirrt blinzelte ich. Ich hatte von Sandstränden und Kokospalmen geträumt – von dem Ort, den mein Unterbewusstsein schon so oft gesucht hatte, und diesmal hatte ich sogar das Glück gehabt, ihn in den Archiven meiner Erinnerung zu finden.
    Er war natürlich dort gewesen – in Uniform. Und er hatte mich schüchtern angelächelt, während die Wellen an die Küste schlugen. Ich konnte ihr lautes Krachen hören, gefolgt vom Zischen von Millionen Bläschen, die den Sand liebkosten. Als ich die Augen fest zudrückte, sah ich ihn wieder, nur noch undeutlich erkennbar im Nebel des Schlafs, der sich viel zu schnell lichtete. Geh nicht fort , flehte mein Herz. Bleib. Bitte, bleib. Ergeben schenkte er mir sein verlockendes Lächeln und streckte mir die Arme entgegen. Ich spürte das vertraute Herzflattern, die Sehnsucht.
    Dann war er verschwunden.
    Ich schalt mich selbst und warf seufzend einen Blick auf meine Armbanduhr. Halb vier. Ich war wohl beim Lesen eingeschlafen. Wieder einmal. Spontanschlaf ist der Fluch des Alters. Ein wenig verlegen richtete ich mich in meinem Liegestuhl auf und bückte mich nach dem Buch, das ich gelesen hatte, bis die Erschöpfung mich übermannt hatte. Es war mir aus den Händen gerutscht und lag aufgeschlagen, mit dem Rücken nach oben, auf dem Boden.
    Jennifer trat auf die Terrasse. Ein Lastwagen donnerte vorbei, sodass es endgültig aus war mit dem Frieden. »Ach, hier bist du«, sagte sie und lächelte mich an mit ihren nussbraunen Augen, die sie von ihrem Großvater geerbt hatte. Sie trug Jeans und einen schwarzen Pullover und einen hellgrünen Gürtel um ihre schlanke Taille. Ihr blondes, kinnlanges Haar glänzte in der Sonne. Jennifer ahnte gar nicht, wie schön sie war.
    »Hallo, Liebes«, sagte ich und streckte ihr eine Hand entgegen. Ich betrachtete die hübschen hellblauen Stiefmütterchen in den Terrakottatöpfen auf der Terrasse. Sie lugten aus der Erde hervor wie schüchterne, reumütige Kinder, die beim Spielen im Dreck erwischt wurden. Der Lake Washington und die Skyline von Seattle, die sich in der Ferne gegen den Horizont abhob, waren schön anzusehen, aber kühl und steif, wie ein Gemälde im Wartezimmer eines Zahnarztes. Ich runzelte die Stirn. Wie kam es, dass ich hier wohnte, in dieser winzigen Wohnung mit den weißen Wänden und einem Telefon im Bad neben der Toilette, das eine rote Notruftaste hatte?
    »Schau mal, ich habe etwas gefunden«, sagte Jennifer. Ihre Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Und zwar im Mülleimer.«
    Ich glättete mein dünnes, weißes Haar. »Was denn, Liebes?«
    »Einen Brief«, antwortete sie. »Er muss zwischen die Wurfsendungen geraten sein.«
    Ich versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken, doch es gelang mir nicht. »Leg ihn einfach auf den Tisch. Ich sehe ihn mir später an.« Ich ging hinein, setzte mich aufs Sofa und betrachtete mein Spiegelbild im Fenster. Eine alte Frau . Ich sah diese Frau jeden Tag, und doch wunderte ich mich immer wieder über das Bild im Spiegel. Wann war ich eine alte Frau geworden? Mit den Fingerspitzen berührte ich die Runzeln in meinem Gesicht.
    Jennifer setzte sich neben mich. »Hattest du einen besseren Tag als ich?« In ihrem letzten Studienjahr an der University of Washington hatte sie ein ungewöhnliches Thema für eine Seminararbeit gewählt. Es ging um eine Bronzeplastik, die auf dem Campus stand. Die Skulptur stellte ein junges Paar dar und war der Universität 1964 von einem anonymen Künstler geschenkt worden. Auf der Plakette stand lediglich: Stolz und Gelöbnisse . Jennifer war von der Skulptur fasziniert und hoffte, den Künstler ausfindig machen und die Geschichte hinter der Skulptur herausfinden zu können. Aber drei Monate Recherchen hatten bisher kaum etwas zutage gefördert.
    »Irgendwas Neues herausgefunden?«
    »Nada«, sagte sie stirnrunzelnd. »Es ist frustrierend. Dabei gehe ich wirklich gründlich vor.« Sie schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Es fällt mir schwer, es zu akzeptieren, aber ich fürchte, die Spur ist kalt.«
    Ich hatte am eigenen Leib erfahren, wie es war, in den Bann eines Kunstwerks zu geraten. Jennifer wusste nichts davon, aber ich hatte fast mein ganzes Leben lang vergeblich nach einem Gemälde gesucht, das ich
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