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Die Betrogenen

Die Betrogenen

Titel: Die Betrogenen
Autoren: Michael Maar
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Brille aufgesetzt hätte, nur um herauszubekommen, was die junge Frau zwei Reihen vor ihm las, als hinge irgendetwas davon ab.
    Genau das war es, was er meinte, erwiderte Bittner erfreut. Nun stelle Karl sich dieses Bedürfnis bis ins Äußerste gesteigert vor, dann habe er vielleicht Verständnis für seine Lieblingsidee. Nach Bittners Lieblingsvorstellung wären am Jüngsten Tag keinerlei Brillen mehr nötig. Denn dann würde das Große Buch aufgeklappt und dem Publikum zugänglich gemacht. Die Große Liste würde enthüllt, nach der es kein Geheimnis mehr gab.
    Karl begriff noch nicht ganz, was Bittner meinte.
    Hatte Karl vielleicht schon von der universellen Turingmaschine gehört? Aber das müsse er jetzt auch gar nicht erklären, das war theoretische Physik. Ganz anders und im Bilde gesagt: Alles, was passierte, hinterließ im Feinstaub des Kosmos einen Abdruck, und auf diese Abdrücke hätte man dann ungehinderten Zugriff. Er stelle sich eine Art kosmischer Black Box vor.
    Karl wußte, daß Bittner Flugangst hatte, da mußte ihn jeder ungeklärte Absturz, nach dem Tauchgeräte den Boden des Atlantiks absuchten, an seine Idee erinnern. Bittner war wieder stehengeblieben und rieb die Fingerspitzenaneinander, während er seinem schwierigen Lieblingsgedanken nachsann. Karl spürte, daß er ihn nicht alle paar Tage zum Besten gab, vielleicht war es sogar eine Premiere und eine kleine Ehre für Karl, Zuhörer und Zeuge zu sein.
    Genau genommen wäre es nicht der Jüngste Tag – Bittner nahm die Hände auseinander und hielt den Zeigefinger nach oben –, in seiner Vorstellung wäre es die Sterbesekunde. Einige Physiker wollten, daß die sich aufblähe in einer Zeitblase, die nie platze…
Alles
würde offenbart, wie sich das wohl anfühlen würde?
    Bittners Augen waren geweitet. Mit wie vielen Ahnungen lief man nicht durchs Leben, und wie viel war doch völlig anders, als man es sich gedacht hatte! Ganz selten einmal öffnete sich ein Blick hinter den Vorhang, und man spürte einen Hauch vom wirklichen Treiben, das hieß, vom Treiben der Wirklichkeit, von der man durch sein rupfendichtes Ideengespinst sonst so gut abgeschirmt war. Daß in Wahrheit alles ganz anders sei, wußte das instinktiv nicht jeder? Dieses ganz spezielle Erstaunen dann, wenn man einmal kurz hinter den Vorhang sah, halb Glücks-, halb Schaudergefühl, und das in einer nicht abreißenden epiphanischen Kette …
    Karl fragte sich, ob Bittner aus einem schon geschriebenen Essay zitierte oder ob er frei entwarf; das leichte Stocken zwischen den Sätzen sprach für letzteres; aber danndruckreif, das konnte er eben immer noch, auch wenn es ja angeblich bergab mit ihm ging und der Wind schon durch alle Ritzen pfiff.
    Als Bittner endlich mit kleinen Schritten weiterzog, klopfte er wieder die Fingerspitzen gegeneinander; dieser Gedanke sollte dem künftigen Biographen nun einmal nahegebracht sein.
    «Lieber Freund, wird Ihnen das etwas durchsichtig?» Die Große Liste – jeder mysteriöse Todesfall geklärt, jeder geheime Plot enttarnt, und wieviel mehr davon gab es, als selbst Bittner vermutet hatte! Die vertauschte Blutprobe des Chauffeurs! Die falschen Schatten im Mondstaub! In einem Lichtblitz würde plötzlich alles klar, besser: in einer Nacht, in der es vor Blitzen nicht dunkel würde, eine Myriade von Ahas!, ein Crescendo der köstlichsten und schockierendsten Erkenntnisse.
    «Vor allem aber schockierend.» Bittner hatte wieder Halt gemacht, Karl fand seinen Spazierstil allmählich anstrengend.
    Denn auch im eigenen Leben würde ja alles offengelegt. Und da sei nun leider eines sicher: das Schockierende würde bei weitem überwiegen. Vielleicht gäbe es hier und dort Erfreuliches – ein vermeintlicher Feind war ein heimlicher Bewunderer; eine kühle Frau war insgeheim verliebt. Zweimal war man haarscharf einem Unfall entgangen. Aber man mußte nicht viel Scharfsinn aufwenden,um sich vorzustellen, wie selbst Freunde über einen sprachen, sobald die Tür hinter einem zugefallen war, da genügte die einfache Beobachtung, wie sie es in seiner Anwesenheit gegenüber dritten hielten – oder er selbst mit ihnen –, und das nun alles zu erfahren, einzutauchen in diese Natterngrube von Verrat – Bittners Stimme wurde fahl: Da wäre dann eben der Tod hochwillkommen, was ja auch der Sinn oder, wenn Karl erlaube, die List der Großen Liste war. Im übrigen, der Neugier wäre durch sie auf immer das Maul gestopft – wer wollte da noch leben?
    Karl
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