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Die Betrogenen

Die Betrogenen

Titel: Die Betrogenen
Autoren: Michael Maar
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gemacht hatte?
    Karl konnte sich nicht daran erinnern.
    Das war bei seiner Studie über die Josephslegende gewesen, da hatte er von «Judas Vermächtnis» geschrieben. Und der Lektor hatte hinter das «s» des «Judas» doch tatsächlich einen korrigierenden Apostroph gesetzt!
    Bittner hielt den Kopf mit dem Adlerprofil leicht zur Seite geneigt, wie es seine Gewohnheit war, und betrachtete Karl, der seine Serviette glattstrich. Neben ihnen zogen bunte Fische ihre langsamen Runden in dem Aquarium, das bei keinem Chinesen fehlen durfte.
    Das hieß, erklärte Bittner und hielt den Kopf jetzt aufrecht, er hatte den Genitiv nicht erkannt. Das hieß, er kannte nicht den Unterschied zwischen Judas, dem Jesus-Verräter, und Juda, dem Bruder Josephs! Er kannte nicht den Unterschied zwischen dem Neuen und dem AltenTestament. Er kannte überhaupt nichts und hatte nichts gelesen und strich auch sonst immer zielsicher die besten Pointen heraus. Aber Cheflektor bei Gabriel … Der in Personalfragen dann doch nicht den sichersten Griff gehabt hatte, bei aller unbestreitbaren Größe sonst.
    Bittner seufzte, hatte er nicht sogar leicht feuchte Augen? Dabei war es eher Karl, der einen väterlichen Protektor verloren hatte, Bittner und Gabriel waren ja aus derselben Generation, was sie natürlich auch wieder verband.
    Der Tod ihres Verlegers war trotz seiner langen Krankheit überraschend gekommen. Gabriel hatte nicht zu den Menschen gezählt, von denen man sich vorstellen konnte, sie stürben wirklich. Selbst die Natur schien empört und tobte in der Nacht seines Todes mit einem Sturm über der Stadt, der Masten knickte, parkende Autos versetzte und Flugzeuge an der Landung hinderte. Zur Trauerfeier eine Woche darauf hatte sich in München die ganze Literaturwelt versammelt.
    Im Aquarium witschte ein hellroter Fisch aus seiner lethargischen Bahn. Bittner, der einen Zahnstocher mit einer Hand abschirmte, war Karls Blick gefolgt. Wußte er, daß Aquarien in den Chinarestaurants nicht nur der Dekoration dienten? Nein, man konnte sie lesen und entziffern wie einen Code. Durch Anzahl und Farbe der Fische zeigten sie die jeweilige Triade an, an die der Besitzer das Schutzgeld abführte. So kamen erst gar keine Mißverständnisseauf; und das war auch der Grund, warum sie bei kaum einem Chinesen fehlten. Wie war denn nun aber die Trauerfeier genau? Welche Musik wurde gespielt?
    Ein langsamer Satz aus einem Streichquartett Debussys. Die Aussegnungshalle war bis auf den letzten Platz gefüllt, Karl hatte stehen müssen. Gabriels Tochter war als letzte gekommen, ihre Stöckelschuhe hatten auf dem Steinboden geklackt, als sie zur vordersten Reihe geschritten war. Nach der Zeremonie hatte man sich im leichten Nieselregen um das Grab gruppiert.
    Karl zog seinen neugewonnen Bleistift aus der Jacketttasche und malte einen Kringel auf seine Serviette. «Der Grabplatz war erhöht, die Tochter, sehr gefaßt, stand ganz allein.» Er machte noch einen Kringel, während Bittner sich eine Zigarette anzündete. «Auf dem Grabplatz also die allein postierte Tochter, in deutlichem Abstand dazu ihr Bruder. Dazwischen die Ehrengäste, dahinter verstreut das Publikum.»
    Karl deutete weitere Kringel an. Als er seine Skizze beendet hatte, bot sich Bittner ein unerwartetes Bild. Die Serviette zeigte ein Kürbisgesicht mit vielen Zähnen; die Trauergemeinde formte das Halbrund des grinsenden Munds.

II.

    B ei den Namen merkt man es als erstes. Geht es Ihnen auch schon so, lieber Freund, daß Sie immer öfter Namen vergessen? Aber nein, Sie sind ja noch blutjung.» Bittner legte seine Hand auf Karls Schulter. Es war erstaunlich mit ihm, woher hatte er nun schon wieder diese Schwäche erkannt? Sicher hatte er früher beobachtet, daß Karl manches von ihm kopierte, aber doch nicht sein schlechtes Namensgedächtnis.
    Die Frühlingssonne schien mild, als sie zu ihrem lange verabredeten Spaziergang aufbrachen, dem Karl mit leicht gemischten Gefühlen entgegensah. Seit Gabriels Tod und ihrem Treffen beim Chinesen hatte er den vielbeschäftigten Freund nur telephonisch gesprochen; heute hätten sie etwas länger füreinander Zeit, wobei unvermeidlich auch Themen aufs Tapet kommen würden, auf die Karl nicht besonders erpicht war.
    Bittner war in Plauderstimmung, und Karl fühlte, wie die alte Wärme für ihn hochstieg. Wer immer Bittner seine Stimme beschert hatte, mit ihrem dunklen weichen Timbre, der hatte sich wahrhaft generös gezeigt. Seine Höflichkeit war so
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