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Die Betrogenen

Die Betrogenen

Titel: Die Betrogenen
Autoren: Michael Maar
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zuständige Patron geheilt hatte?
    Da müsse man es mit der Logik halten, befand Bittner mit festem Blick: Entweder – Oder, man könne nicht auf der Freidenkerseite alles Mögliche zwischen Himmel und Erde zulassen und bei den Katholiken plötzlich Wunder verbieten. Was nicht heißen sollte, daß es in Ischia nicht auch die Heilquellen gewesen sein mochten, die das Wunder unterstützt hatten.
    Bittner zückte eine neue Zigarette aus seiner Tasche, die Vorratskammer mußte gut gefüllt sein, eine richtige Ali-Baba-Höhle verbarg sich da in seinem Jackett.
    Sein Vater war dann knapp zwei Jahre nach dem Schlaganfall gestorben. Er hatte die Beerdigung noch geplant, denn er hatte seinen Tod auf den Tag genau vorhergesagt. Das gäbe es ja immer wieder.
    Karl hörte ein leises Rascheln und schaute nach oben. Auf einem Baum jagte ein dunkelbraunes Eichhörnchen einem rötlichen hinterher.
    Aber was hatte es geholfen? Das Vorauswissen half einem ja nie, sagte Bittner, der versunken blickte. Das bewiesen auch alle Prophezeiungen. Hatte je ein Mensch von einer Prophezeiung profitiert? Entweder man wollte ihr ausweichen, wie Ödipus, dann machte man sie gerade dadurch wahr. Oder die Erfüllung tarnte sich so geschickt, daß man ihr wieder nicht entkam. Wie zum Beispiel bei Odysseus.
    «Ach ja, warum das?» – Karl mußte um Aufklärung bitten, er hatte die Episode nicht parat.
    Nun ja, Odysseus war prophezeit worden, daß der Tod aus dem Meer kommen würde. Aber selbst wenn er das Meer strikt gemieden und keinen Fußzeh mehr mit Wasser benetzt hätte, es hätte ihm nichts genutzt. Laut Fragment starb er durch den Speer des eigenen Sohns.
    Oh, noch ein Vatermord! Patrizid schien damals ja verbreitet. Aber Karl verstand noch immer nicht ganz. Was war dann also mit der Prophezeiung?
    Ja, die hatte sich eben trotzdem erfüllt, weil die Spitzedes Speers der Stachel eines Rochens war. Und darum also war der Tod aus dem Meer gekommen.
    Bittner breitete entwaffnend die Handflächen aus und zog die Mundwinkel nach unten; als Italiener hätte er «
E!
» gesagt und das Kinn kurz nach oben geschnelzt. Das kam für Bittners gestische Gewohnheiten nun nicht in Frage, trotz seines ausgiebig genutzten Landsitzes in Umbrien. Das Geheimnis der Bittnerschen Gestik hatte Karl noch immer nicht durchschaut; das sparsam Elegante und Zwingende daran deutete auf ein verborgenes Gesetz wie in der Natur, wenn sie in Millionen Jahren aus möglichst wenig Material die einzig vernünftige Federoder Eiform entwarf. Bittners Vater kam ja ursprünglich aus Estland, vielleicht hatte auch das ihn geprägt, wobei es so nahe bei Rußland gestisch wohl bewegter zuging.
    Der Sohn mit dem Speer! Karl zupfte im Vorbeigehen ein Blättchen von einem Baum, obwohl er wußte, daß ein Lehrmeister Bittners genau dies verboten hatte. Bittner war in Gedanken und hatte es nicht bemerkt. Am Saum ihres Spazierwegs sah Karl emsige Bewegung. Daß diese Feuerwanzen auch den ganzen Tag lang nichts anderes trieben! Hatte man je eine alleine gesehen? Scheußliches Karminrot auch.
    Sie passierten eine Holzbrücke am Stauwerk, wo das Wasser reißender wurde. In der Flußböschung wuchsen Butterblumen in grellem Gelb; nicht ganz so schlimm wiedie Forsythien, die schon verblüht waren und denen Karl eine um so grimmigere Verachtung entgegentrug, als er mit ihr alleine stand. Forsythien und Goldregen und Sonnenblumen, wer die am liebsten entfernt hätte, wenn er einen Garten besäße, der hatte es in der Welt nicht leicht. Schon als Kind hatte Karl nur Pastellfarben gemocht.
    Aus irgendeinem Grund fiel ihm der Titel eines galanten pornographischen Romans ein,
Der gelüftete Vorhang
. War das nicht der Graf Mirabeau? Die indiskreten Kleinode waren jedenfalls Diderot.
Bijoux
war schmelzender als Kleinode. Wieso er jetzt ausgerechnet darauf verfiel? Doch nicht die Feuerwanzen?
    Ein Eichhörnchen sprang von einem wippenden Ast zum Nachbarbaum. Es war das rötliche, seinen Verfolger hatte es abgehängt.
Die Große Liste
    Bittners Erkundigung kam unvermittelt. Ob Karl das kannte, wenn er im Zug saß und neben ihm jemand ein Buch las – das fast unbezwingbare Bedürfnis, den Titel zu entziffern?
    Doch, das kannte Karl auch, Bittner hatte es wieder einmal erraten. Trug er denn ein Momus-Fenster in seinerBrust, daß jeder in seinem Innersten lesen konnte, oder war das Bittners Röntgenblick? Neulich hatte er sich sogar dabei ertappt, gestand Karl ihm jetzt, wie er im Zugabteil am liebsten die
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