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und die große Versoehnung

und die große Versoehnung

Titel: und die große Versoehnung
Autoren: Sheridan Winn
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Verenas Hände

    Verena Glass streckte ihre langen schlanken Hände aus. Warum kribbelten sie so? Was war das für ein seltsames Prickeln in ihren Fingern? Sie hatte es noch nie zuvor gespürt. Als ob sie unter Strom stünden, dachte sie und betrachtete grübelnd ihre Handflächen. Sie drehte sie um, aber ihre Hände sahen aus wie immer: weich, mit rosafarbener Haut und kurzgeschnittenen, sorgfältig manikürten Fingernägeln. Und doch war etwas anders, sie
fühlten
sich anders an.
    Verena blickte aus ihrem Schlafzimmerfenster auf die sanften Hügel von Norfolk. Die Felder, die Eichenruh von allen Seiten umgaben, waren abgeerntet und die Bäume kahl. Ein plötzlicher Windstoß fegte ein paar Schneeflocken an ihrem Fenster vorbei. Sie fröstelte leicht. Das elegant eingerichtete Haus wirkte leer und kalt. Seit Mummy uns verlassen hat, ist auf Eichenruh nicht mehr gelacht worden, dachte sie und lehnte sich gegen das Fußteil ihres Metallbettes. Ihre Gedanken wanderten zu Cantrip Towers, das eine Meile die Straße hinunter lag. In der großen, behaglichen Küche herrschte heute bestimmt geschäftiges Treiben, während die Cantrip-Familie ihre Weihnachtsvorbereitungen traf. Ich frage mich, was Flame und ihre Schwestern gerade machen. Ich wette, sie haben viel Spaß.
    Heute ist der zwölfte Dezember, also sind es nur noch dreizehn Tage bis Weihnachten. Verena lächelte in sich hinein. Mummy wird schon bald zu Hause sein. Dann hat das Warten endlich ein Ende. Ich vermisse sie so sehr.
    Wuuusch!
Wieder schoss Energie durch ihre Finger. Sie holte erschrocken Luft und blickte verwundert auf ihre Hände. Was passiert hier gerade? Was hat das zu bedeuten?, fragte sie sich.
    Von unten hörte sie ihre Großmutter rufen: »Zeit fürs Mittagessen!«
    Verena presste die Lippen zusammen und seufzte tief. Ich werde Grandma das mit meinen Händen nicht erzählen, beschloss sie.
    Aber Glenda Glass machte man so leicht nichts vor. Sobald sie zusammen am Tisch saßen, spürte Verena, dass ihre Großmutter sie aufmerksam beobachtete. Während des Essens ertappte sie Glenda mehrmals dabei, wie sie sie ansah. Jedes Mal wandte ihre Großmutter den Blick sofort wieder ab.
    Sie weiß, dass etwas passiert ist, dachte Verena. Das spüre ich. Es ist, als könne sie durch mich hindurchsehen. Aber ich werde trotzdem nichts sagen.
    Glenda aß schweigend. Sie saß kerzengerade da, mit stolzem Blick. In ihrer Jugend war sie Balletttänzerin gewesen, und sie bewegte sich noch immer voller Eleganz und Anmut. »Was hast du den ganzen Vormittag gemacht?«, verlangte sie zu wissen.
    »Ach, nur dies und das in meinem Zimmer«, antwortete Verena ausweichend.
    »Du wirkst etwas zerstreut auf mich«, kommentierte Glenda.
    »Ich habe bloß an Mummy gedacht«, erwiderte Verena rasch.
    »Sie wird bald zu Hause sein«, sagte Glenda mit einem kleinen Lächeln. Dieses gezwungene Lächeln erinnerte Verena daran, dass ihre Großmutter Zoes Heimkehr ganz und gar nicht begrüßte. Denn Glenda höchstpersönlich hatte ihre Magie missbraucht, um Zwietracht zu säen, und damit ihre Mutter vertrieben. Das hatte Verena erst wenige Wochen zuvor erfahren, als sie einen Streit zwischen ihrer Großmutter und Charles Smythson, dem Cousin ihres Vaters, belauscht hatte. Damals hatte sie die beiden über die magischen Kräfte der Cantrip-Familie reden hören und darüber, dass Glenda ihre Kräfte missbraucht hätte.
    Verena wusste nicht, was das alles bedeuten sollte. Sie hatte Flame Cantrip nach den magischen Kräften gefragt, aber das Mädchen wollte nicht mit ihr darüber reden. Genau wie ihre Schwester Marina, die Verena ebenfalls gefragt hatte. Alles, was Flame ihr gesagt hatte, war, dass Verena es verstehen würde, wenn die Zeit dafür gekommen sei. Wenn welche Zeit gekommen ist?, hatte sie sich gefragt. Zumindest hat Flame mich angehört, tröstete sie sich. Es war das erste Mal, dass wir richtig miteinander geredet haben.
    Sie hatte überlegt, ihre Großmutter nach den magischen Kräften zu fragen, aber Glenda jagte ihr Angst ein. Wenn das, was Charles gesagt hatte, stimmte, dann war ihre Großmutter jemand, vor dem man sich in Acht nehmen musste, jemand, dem man nicht vertrauen konnte.
    Instinktiv erkannte Verena, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Während der vergangenen Monate hatte Glenda sie so oft gedrängt, ja sogar gezwungen, ihr Informationen über die Cantrips zu beschaffen. Sie hatte gesehen, wie Glendas kalte blaue Augen jedes Mal vor Wut blitzten und sie ihre
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