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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K
Autoren: Blandine Le Callet
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Forderungen mit meinem Verlangen.
    Das Gehen hat alles verändert, endlich hielt sich mein Körper aufrecht, die beiden Füße fest auf dem Boden, den Kopf gerade. Nach endlosen Monaten, in denen ich von fremden Händen betatscht oder an den Rollstuhl gefesselt durch die Gegend kutschiert worden war, gewann ich die Kontrolle über mich zurück. Mein Leben bestand nicht mehr aus einem Strom absurder Vorgänge. Es nahm wieder Form an, einen sinnvollen Zusammenhang. Ich konnte Tag und Nacht unterscheiden, Abend und Morgen, gestern und heute. Als wäre ich aus einem langen, abartigen Traum aufgewacht.
    Von da an habe ich mich gerüstet. Jeden Tag übte ich das Luftanhalten. Der Schwindel und das Herzrasen, die dabei aufkamen, waren für mich ein Genuss. Vor allem war es sehr nützlich. Seit ich die Mahlzeiten einnahm, ohne zu atmen, konnte ich die Speisen besser ertragen. Der Geschmack wurde schwächer, verwandelte sich in eine erlesene Geschmacklosigkeit, und auch wenn die eklige Konsistenz sich dadurch nicht veränderte, war es doch kein Vergleich zu früher.
    Nach dem Abendessen zog ich mich allein in mein Zimmer zurück. Sie hatten mir mehrmals vorgeschlagen, mich zu den anderen zu gesellen, bis es Zeit wurde, schlafen zu gehen, aber ich weigerte mich. Die anderen machten mir Angst. Jeden Tag beobachtete ich sie von der Reha-Halle aus. Die Nase an die Scheibe gepresst, sah ich ihnen beim Spielen im großen Pausenhof am Fuß des Gebäudes zu. Und trotz der Dreifachverglasung, die den Lärm dämpfte, trotz der dreißig Stockwerke, die zwischen ihnen und mir lagen, zuckte ich immer wieder unwillkürlich zusammen. Eines wusste ich ganz bestimmt: Ich war nicht in der Lage, unter ihnen zu leben. Wir waren zu verschieden, außerdem konnte ich die Geräusche einfach nicht aushalten, die an allen Ecken und Enden widerhallten, dieses Geschrei, dieses Gelächter, diese erstickten Tränen, dieses Gemurmel nachts, im Flur, diese ganzen Lebewesen, die sich vor meiner Tür tummelten. All das erschreckte mich zu Tode. Niemals würde ich mich daran gewöhnen.
    Ich wollte es schon so lange tun, aber ich traute mich nicht. Ich hatte Angst, sie zu verärgern, Angst, dass sie mich wieder festschnallen würden. Eines Abends habe ich es dann doch gewagt, die Versuchung war zu groß: Ich bin unter mein Bett geschlüpft. Habe mich an die Wand gedrückt, in Decke und Laken eingerollt, und mir das Kissen auf den Kopf gelegt. Und so bin ich den Geräuschen entkommen. Zwar konnte ich sie durch die dicke weiche Decke hindurch noch erahnen, aber nur als ganz schwaches Brausen. Der schlimmste Lärm wurde vom dichten Gewebe aufgefangen. Diese Beinah-Stille war so wohltuend, dass ich es kaum fassen konnte.
    Ich dachte mir schon, dass sie alles mit angesehen hatten – die Kamera war genau über meinem Bett angebracht. Die Reaktion würde bestimmt nicht lange auf sich warten lassen. Bald würden sie hier auftauchen und mich herausziehen, mit den Worten: Das darfst du nicht, auf keinen Fall, mach das nie wieder. Ich habe mich noch ein bisschen stärker eingerollt und auf sie gewartet.
    Als nichts geschah, bin ich in den verknäuelten Laken eingeschlafen wie in einem Stoffnest. Das sollte die erste durchgeschlafene Nacht seit meiner Ankunft werden.
    In den folgenden Nächten habe ich es genauso gehalten. Es war natürlich nicht perfekt. Nichts konnte an die wohlige Wärme und behagliche Dunkelheit des Ortes heranreichen, dem man mich entrissen hatte. Aber es war besser als nichts. Es war ein Anfang von Schutz und Geborgenheit.
    Sie waren so klug, mich nicht daran zu hindern, und haben mir bloß eine dünne Matratze unter das Bett geschoben, damit ich bequemer schlief.
    Monat um Monat habe ich so weitergemacht: die Reha, die Mahlzeiten, das Luftanhalten und die Nächte unter dem Bett. Am Ende des zweiten Jahres beherrschte ich das Sprechen fast komplett, obwohl mein Wortschatz für ein Kind meines Alters zu klein war. Ich hatte wieder gelernt, zu gehen und meine Hände zu gebrauchen, wenn auch nach wie vor sehr ungeschickt. Ich konnte die Treppe hochgehen, beidfüßig springen, eine Rolle vor- und rückwärts machen. Ich aß, ohne mich zu sträuben, ohne Luft zu holen. Sie waren mit mir zufrieden. Sie lobten meine Fortschritte. Lebt wieder auf. Das haben sie in den Bericht geschrieben. Und da war durchaus etwas dran.
    Dennoch lebte ich nur halb. Meine Mutter fehlte mir. Ich dachte ständig an sie. Insgeheim – ich hatte begriffen, dass ich darüber
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