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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K
Autoren: Blandine Le Callet
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nicht sprechen durfte. Und was hätte ich schon erzählen können? Ich hatte fast alles aus unserem früheren Leben vergessen. Behalten hatte ich nur lose Eindrücke: ein rotes Kleid, das Geräusch laufenden Wassers, den Duft des Essens, das sie für mich zubereitete. Nicht einmal ihr Gesicht war mir in Erinnerung geblieben, nur die Konturen, klar und verschwommen zugleich, ihr Lächeln, das mit einer Art leuchtendem Nebel verschmolz, als sollte mir die Entfernung vor Augen geführt werden, die uns fortan trennte, sie und mich.
    Eines Morgens haben sie mich abgeholt und in einen Saal geführt, in dem fünf Kinder spielten, zwei Mädchen und drei Jungen. Ich habe ihre Absicht auf Anhieb durchschaut, ohne mich zu wehren. Widerstand wäre zwecklos gewesen, das wusste ich. Als sie sagten: Du wirst jetzt mit den anderen spielen, nur ein Weilchen, los, hab keine Angst , bin ich hingewankt wie eine Schlafwandlerin, die auf dem Fensterbrett balanciert. Mir schwante wohl, was passieren würde.
    Kaum hatten mich die Kinder gesehen, kamen sie angerannt und umringten mich. Ich fand sie seltsam, ziemlich hässlich, offen gesagt, mit irgendwie schiefen Gesichtern. Unsymmetrisch. Ja genau: Ich fand sie unsymmetrisch. Meine dunkle Brille hatte wohl ihre Neugier geweckt. Sie bildete eine Art Schirm zwischen ihnen und mir.
    Die Kinder fingen an, mir Fragen zu stellen: Wie heißt du? Warum hast du eine Brille auf? Warum bist du so dürr? Warum zitterst du? Sie sprachen schnell, alle durcheinander, sie hörten gar nicht mehr auf. Ich wollte mir einfach nur die Ohren zuhalten und ihnen den Rücken kehren. Allerdings wusste ich, dass von mir etwas anderes erwartet wurde, und so habe ich mich der Situation gestellt. Ich habe alle Fragen beantwortet, ganz mechanisch. Sicher hätte ich ihnen meinerseits Fragen stellen müssen, aber das ging über meine Kräfte.
    Als sie mich einluden, mit ihnen zu spielen, habe ich mich darauf eingelassen – ich hatte keine andere Wahl –, und dann ging es los. Bloß kannte ich ihre Spiele nicht. Sie haben versucht, mir die Regeln zu erklären, aber ich verstand kein Wort. Bist du blöd oder was? Das ist doch nicht schwer! Dass sie plötzlich so ärgerlich waren, jagte mir Angst ein; es wirkte so bedrohlich, und ich verstand noch weniger. Einer der Jungen hat dann gesagt: Du bist eben ein bisschen bekloppt. Das war nicht wirklich böse gemeint. Aber es hieß ganz eindeutig, dass ich nicht so war wie sie und dass sie es merkten.
    Schließlich haben sie mich stehenlassen, um am anderen Ende des Raums unter sich zu spielen. Das machte mir nichts aus, im Gegenteil: Ich war froh, dass sie sich verzogen. Dann fingen sie an zu tuscheln und warfen mir hin und wieder verstohlene Blicke zu. Nach einer Weile hat eines der Mädchen die Gruppe verlassen und ist auf mich zugekommen.
    »Ich wette, du hast es noch nie gemacht.«
    »Was?«
    »Hast du’s schon gemacht?«
    »Was denn? Wovon redest du?«
    Sie hat nicht geantwortet. Das Funkeln in ihren Augen war verstörend.
    »Raus mit der Sprache: Hast du’s schon gemacht?«
    Die anderen Kinder kamen näher, um ja nichts zu verpassen.
    »Hast du’s schon gemacht?«
    Ich war wie gelähmt, mir blieb die Luft weg, ich spannte das Zwerchfell an, aber das reichte nicht, um die Angst zu bezwingen. Hinter den getönten Brillengläsern füllten sich meine Augen mit Tränen. Sie lachten. Sie witterten meine Panik, und das stachelte sie an.
    Plötzlich hat sich das Mädchen auf mich gestürzt. Ich bin umgefallen. Sie lastete mit ihrem ganzen Gewicht auf mir. Dann spürte ich, wie sie die Hand grob unter meinen Rock schob und mein Höschen herunterzog.
    »Das hier. Hast du das schon mal gemacht?«
    Ich schrie, während sie mich befingerte.
    Mit der anderen Hand zerkratzte sie mir die Oberschenkel. Zwar schlug ich heftig um mich und schrie aus vollem Hals, aber sie hatte mehr Kraft als ich. Alle hatten mehr Kraft als ich. Sie ließ nicht locker, und die anderen brüllten lachend: Die Bekloppte! Die Bekloppte! Die Bekloppte! Meine Brille flog quer durch den Raum. Blitzartig blendete das Licht meine tränenfeuchten Augen. Der Erzieher eilte herbei, und ich schlug immer weiter um mich, lange nachdem er das Mädchen und mich auseinandergezerrt hatte.
    An die folgenden Tage erinnere ich mich kaum, aber sie verliefen wohl nicht so gut, dem Bericht zufolge. Sobald jemand in meine Nähe kam, fing ich an zu brüllen. Meine Brille war kaputtgegangen. Sie haben mir eine neue besorgt, die ich
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