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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K
Autoren: Blandine Le Callet
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wäre, dort zu leben, dem Schmutz und den Gefahren zum Trotz. Ich frage mich nur. Sicher bin ich mir nicht.
    Vor ein paar Tagen habe ich im Netz eine Werbeanzeige für die neue Show des Dr. Vesalius erhalten – erinnern Sie sich an Dr. Vesalius, den Freund der Entstellten und Ausgegrenzten ? Momentan tourt sein Zirkus durch die Zone. Ein sensationeller Erfolg , steht in der Anzeige. Höhepunkt der Show ist ein Wunderkind von sechseinhalb Jahren, das ohne Arme geboren wurde. Dank eines intensiven Trainings hat der kleine Junge so gelenkige Zehen, dass er damit sämtliche Alltagsgesten mühelos ausführen kann: Auf der Bühne kleidet er sich alleine an, dann setzt er sich zu Tisch, benutzt Messer und Gabel und trinkt aus einem Kristallglas, ohne einen Tropfen zu verschütten. Er schießt mit dem Bogen, zeichnet meisterhaft und rührt andere mit seinem Geigenspiel zu Tränen. Und das mit gerade mal sechseinhalb Jahren. Ein kleiner Musikvirtuose. Natürlich habe ich daran gedacht. Es könnte sich durchaus um Luciennes Sohn handeln.
    Lange glaubte ich, dass die Welt mich nicht interessiert. Für mich gab es nur einen Grund zu leben: Ich wollte meine Mutter wiederfinden und verstehen, was mir widerfahren war. Heute weiß ich, dass ich mich geirrt habe, dass die Dinge komplizierter sind. Am Ende lässt man sich doch stärker ein, als man wollte. Da sind so viele, denen ich begegnet bin und die ich ins Herz geschlossen habe. Monsieur Kauffmann, Lucienne, Justinien. Fernand, der immer für mich da war und ist. Pascha, die Straßenkatze und ihre Kleinen, wo sie auch sein mögen. Da ist die Zone, die ich häufiger besuchen möchte. Dieses Kind, das mit den Zehen zeichnet und die Geige zum Klingen bringt. Da sind Sie.
    Vor kurzem habe ich etwas Unglaubliches erlebt, bei einer nächtlichen Sensor-Sitzung. Es war vollkommen unerwartet, überwältigend. Ein Blitz, der mir durch den Unterleib fuhr. Ein nie gekanntes Gefühl von ungeheurer Wucht. Das erste Mal, dass ich zum Höhepunkt gelangte. Ich sollte es Ihnen vielleicht nicht verraten, aber ich tue es trotzdem: Als das passierte, habe ich an Sie gedacht, Milo. An uns beide. Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel.
    In den letzten Monaten habe ich mich oft gefragt, ob ich weitermachen oder einfach aufgeben soll. Heute stelle ich mir diese Frage nicht mehr. Ich sage mir, dass es auch Schönes und Beglückendes gibt. Es ist zwar selten, aber möglich, und an dieser Vorstellung möchte ich festhalten. Ich möchte leben. Fühlen. Berührt werden. Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, doch ich will es versuchen, weil ich wirklich der Überzeugung bin, dass es sich lohnt. Ja, Milo, ich möchte leben. Aber nicht ohne Sie.
    Nachdem ich das Grab meiner Mutter besucht hatte, brach ich zu Hause die Siegel auf dem Papierpacken und dem Tintenfläschchen auf, die Monsieur Kauffmann mir einst geschenkt hat. Ich nahm den schönen Silberfüller von der Kommode. Dann zog ich mich wieder in den Wandschrank zurück. Ich wusste, wie riskant es war, diese losen Blätter zu befreien, aber das hat mir keine Angst gemacht. Ich musste es so oder so tun.
    Es ist nichts passiert. Weder Verweis noch Verhaftung. Das hatte ich mir schon gedacht: Sie sind überlastet und können nicht mehr jeden Einzelnen ständig kontrollieren. Nicht, dass mir das leidtäte.
    Nacht um Nacht habe ich die Seiten im Licht meines Grammabooks vollgeschrieben. Die Tinte roch nach Veilchen, das Papier fühlte sich seidig an unter meiner Handkante. Die Sätze sind wie von allein entstanden – nach diesem langen Schweigen hatte ich Ihnen so viel mitzuteilen.
    In erster Linie dachte ich aber, dass meinen Worten eine gewisse Macht innewohnt: die Macht, Sie zu beschützen. Solange es irgendwo jemanden gibt, der zu Ihnen spricht, der Ihnen schreibt, können Sie nicht sterben. Sie sind noch auf der Welt. Sie sind ein Teil von ihr. Mit dieser Überzeugung habe ich das hier zu Ende geführt, Milo. Ich wollte Ihnen meine Geschichte erzählen, doch vor allem wollte ich Sie am Leben erhalten.
    Jetzt ist es vollbracht. Das Tintenfläschchen ist leer, sämtliche Seiten sind beschrieben. Ich habe sie sorgfältig zusammengelegt und in einem Schuhkarton verstaut. Der Packen ist hier, in der hintersten Ecke des Wandschranks, versteckt. Er wartet nur noch auf Sie, aber Sie sind nicht da.
    Ich stehe an meinem Fenster. Betrachte die Stadt bei Sonnenuntergang. Die Sonne ist rot und riesig. Wie ein gewaltiges Herz, das Blut auf die Dächer
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