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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K
Autoren: Blandine Le Callet
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nicht geahnt, dass sie mit ihrem blinden Eifer für mich einen Schatz anlegten: unzählige Anteile meiner verlorenen Erinnerung. Der unwiderlegbare Beweis, dass meine Mutter mich geliebt hat.
    Zugegeben, sie hat sich nicht immer vorbildlich verhalten, aber wer hat sie denn unterstützt – ich meine, wirklich unterstützt –, als sie ins Trudeln geriet? Wie soll man mit einem Kind richtig umgehen, das nicht vorgesehen war, insbesondere wenn es sämtliche Pläne über den Haufen wirft, die man geschmiedet hat, und einem das Leben auf einmal so schwermacht?
    Manchmal frage ich mich, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie mich nicht bekommen, wenn ihr Implantat nicht versagt hätte. Ob ihr Gesicht wohl immer noch so glatt und frisch wäre wie in meinen Kindheitserinnerungen? Hätte sie ihre Träume schließlich verwirklicht: sich den Zonenakzent abgewöhnen, phiel lernen , nach Italien reisen und nach Amerika?
    Ich muss wieder an dieses Lied denken, das sie mir abends zum Einschlafen vorsang, Summertime . Bestimmt hatte sie sich solch ein Leben für mich erhofft: strahlend wie der Sommer, weich wie die Baumwolle. Der Vater reich. Die Mutter elegant. Und keine einzige Träne, kein einziger Schrei, um den prachtvollen Sonnenuntergang zu trüben. Damit sagte sie mir: Eines Tages wirst du dich in den Himmel aufschwingen. Das erträumte sie sich für mich, die ich durch meine Geburt ihre Flügel gekappt hatte. Zum Schluss sagte sie: Dir kann nichts Schlimmes passieren, Papa und Mama sind da, sie sind bei dir. Das stimmte nur halb.
    Ich sage nicht, dass sie vollkommen unschuldig war. Ich sage nur, dass sie ihr Bestes versucht hat. Und das ist das Einzige, was zählt.
    Die Lamellette brannte mir zwischen den Fingern. Ich habe sie behutsam in einen der Risse gesteckt, so tief, dass nichts mehr zu erkennen war, und mit einem Häufchen Moos bedeckt. Ich blieb noch ein paar Minuten am Grabrand sitzen, flüsterte schließlich: Auf Wiedersehen, Mama . Dann bin ich gegangen.
    Auf der Rückfahrt habe ich unverwandt die Landschaft betrachtet, die entlang der Gleise an mir vorbeizog. Sie war so trüb und wüst wie eh und je, und dennoch sagte ich mir, ich werde wiederkommen. Ich habe Lust wiederzukommen. Vielleicht wegen der Kinder, die in den Brachen Ball spielten. Oder vielleicht auch nur, weil ich mich daran gewöhnt hatte.
    Es heißt, dass immer mehr Leute aus der Stadt hinausziehen, um sich in der Zone niederzulassen. Die Regierung hat das Phänomen erst geleugnet, jetzt gesteht sie es zwar ein, spielt es allerdings herunter: Es handle sich nur um eine Handvoll Außenseiter, politische Extremisten, die wegen ihrer Ansichten schon längst erfasst seien. Das stimmt aber nicht. Wenn man im Netz sucht, findet man mit ein wenig Glück Erlebnisberichte, bevor sie gleich wieder gelöscht werden. Darin begründen die Leute ihre Entscheidung wegzuziehen. Es sind weder Fanatiker noch Rebellen, sondern Leute wie Sie und ich – vor allem wie Sie. Ganz normale Leute.
    Noch vor wenigen Monaten hätte ich es absurd gefunden, die sichere Innenstadt zu verlassen, um extra muros zu leben. Jetzt kann ich es allmählich verstehen. Es gibt Tage, da würde auch ich mir wünschen, dass das alles aufhört: die Urinanalyse jeden Morgen nach dem Aufstehen, die Scannerkontrolle jedes Mal, wenn ich ein öffentliches Gebäude betrete, die Inspektion meiner Einkäufe, die Vorschriften der Ernährungsberater, die Vorladung zu meinen ersten Gesichtsspritzen, der Sender, den ich mir auf Fernands Drängen hin unter das Brustbein implantieren lassen soll, und diese Kamera, die hinter dem großen Spiegel ständig alles aufnimmt.
    Früher hielt ich das alles für selbstverständlich, ich hatte nichts daran auszusetzen. Aber jetzt sehe ich klarer. Mir fallen die Zeitungen ein, die ich auf Ihre Anregung hin in der Bibliothek gelesen habe: die Grenze, die Aufstände, die Visumspflicht, intra und extra muros. Die Digitalisierung, die zensierten Artikel und die Beschlagnahmung aller Papierdokumente. Nach und nach begreife ich, wie alles miteinander zusammenhängt, was es zu bedeuten hat. Soll ich Ihnen etwas verraten, Milo? Ich weiß nicht, ob Sie schuldig sind. Doch ich bin sicher, dass Sie das Richtige getan haben, egal, was es war.
    Manchmal denke ich an die Porträts in Ihrem Büro, an das, was Sie mir über die Zone erzählt haben, an diese Bibliotheken, wo die Menschen noch echte Bücher aufschlagen können, und dann frage ich mich, ob es nicht wünschenswert
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