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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K
Autoren: Blandine Le Callet
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Augen auf, als käme sie wieder zur Besinnung. Du siehst ja schlimm aus, meine Kleine! Sie schloss mich in die Arme, trug mich zitternd zum Bett. Was hast du bloß angestellt? Ich habe sie wortlos angeblickt. Sie lächelte. Auf der Wange hatte sie eine rosa Schnittwunde. Alles wird gut, meine Kleine. Ich werde mich um dich kümmern. Ich neigte den Kopf zur Seite. Ich konnte nicht mehr sprechen. Aber zuerst schläfst du ein bisschen, ruhst dich aus, das wird dir guttun. Sie legte sich zu mir. Mama ruht sich jetzt auch ein bisschen aus. Bevor mir die Augen zufielen, sah ich sie nach einer Spritze auf dem Karton greifen, der ihr als Nachttisch diente.
    Die schwarzgekleideten Männer tauchten um sechs Uhr morgens auf. So steht es im Protokoll. Es ging alles sehr schnell: das Geschrei meiner Mutter, der Schlagstock an ihrer Kehle, ihre Brüste, die aus dem klaffenden Bademantel hervorschauten, der Knebel, die Zwangsjacke. Ein paar Minuten, höchstens.
    Ich habe den Männern zugesehen, ohne einen Finger rühren zu können. Mir ging es wie in diesen Träumen, in denen jede Geste in Zeitlupe erfolgt, man den Mund aufmacht, ohne dass ein Ton herauskommt, und im Augenblick der Gefahr plötzlich feststellt, dass man gar nicht laufen kann. Ohnmächtig, hilflos wohnte ich der größten Katastrophe meines Lebens bei.
    ***
    Die Straßenkatze hat in einer Januarnacht geworfen. Ich gab mich gerade im Wandschrank meinen Erinnerungen hin, als ich die Kätzchen miauen hörte. Sie ahnen nicht, was für einen Trost mir diese winzigen Lebewesen gespendet haben, die eben im Nebenzimmer zur Welt gekommen waren. Und der war auch nötig, glauben Sie mir. Dringend nötig.
    ***
    Sie haben meine Mutter in das Untersuchungsgefängnis des 36 . Bezirks geführt. Die ärztliche Untersuchung, die bei ihrer Aufnahme erfolgte, zeigte Verbrennungsspuren an verschiedenen Körperstellen, Lazerationen an Rücken und Oberschenkeln (Selbstverstümmelung?), eine frische, acht Zentimeter lange Schnittwunde an der linken Wange (Selbstverstümmelung?), zwei abgebrochene Backenzähne, sieben unbehandelte Karies, eine Verkrümmung der Nasenscheidewand infolge einer Verletzung. Im Bericht sind außerdem noch aufgelistet: Unterernährung, Dehydration, Befall mit mehreren Parasiten. Der Röntgenaufnahme nach waren die Lungen gesund. Im Blut wurden Alkohol und Heroin nachgewiesen. Meine Mutter wog bei einer Größe von 1 , 72 Meter 46 Kilo.
    ***
    Es waren vier, die an den Zitzen der Straßenkatze hingen. Vier bunte, getigerte Fellknäuel, zartlila, gelb, rosa und himmelblau. Pascha saß direkt daneben und betrachtete sie still und erhaben. Er sah aus wie eine feuerfarbene Sphinx. Du kannst stolz auf dich sein, mein schöner Kater. Du hast ganze Arbeit geleistet.
    Ich habe Fernand nichts davon erzählt. Ich brachte es einfach nicht fertig, mich von den Katzen zu trennen. Ich brauchte sie noch, wenigstens eine Zeitlang, bis ich meine Lektüre beendet hatte.
    ***
    Die Entzugserscheinungen sind sehr schnell aufgetreten: Schweißausbrüche, Schüttelfrost, Krämpfe, Durchfall, Übelkeit … Steht alles in der Akte. Sie haben meine Mutter ans Bett geschnallt und sie drei Tage lang schreien lassen. Danach war nichts mehr zu vernehmen. In der Akte ist vermerkt: Entziehungsende am 20. 11. ’95. Der Arzt kommentiert: Zustand zufriedenstellend .
    Sie verweigerte jede Nahrung, kippte regelmäßig ihren Teller um und spuckte jeden Bissen aus, den man ihr einzutrichtern versuchte. Wieder wurde sie ans Bett geschnallt, dann haben sie ihr eine Magensonde gelegt, mit einer Glukoseinfusion in der Armbeuge. Seltsam, nicht wahr, wenn man bedenkt, dass man mich im Zentralheim zur gleichen Zeit derselben Behandlung unterzog. Als wären meine Mutter und ich auf geheimnisvolle Weise weiterhin verbunden gewesen, durch den Schmerz, als wäre keine richtige Trennung erfolgt.
    Als sie meine Mutter befragen wollten, war sie immer noch im Zustand der Prostration. Im Bericht heißt es: Ist nicht kooperationsbereit. War sie tatsächlich nicht bereit, oder war sie einfach nicht in der Lage zu sprechen? Man stopfte sie mit Sedativa und Antidepressiva voll, um ihre Schmerzen zu lindern – das war auch ein probates Mittel, sie ruhigzustellen. Woher sollte sie da die Kraft und die Klarsicht nehmen, um zu antworten?
    Der Prozess gegen meine Mutter wurde am 10 . Dezember eröffnet, knapp einen Monat nach ihrer Festnahme. Die Staatsanwaltschaft rief Dutzende von Belastungszeugen auf: Nachbarn, frühere
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