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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K
Autoren: Blandine Le Callet
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den Champs-Élysées wurden die Obstgärten wieder eröffnet. Der Weizen steht hoch. Die Zeit der Kirschen ist angebrochen. Ich habe mir zwei Kleider gekauft, ein blaues und ein rotes. Ob ich mich trauen werde, sie zu tragen, weiß ich nicht. Im September will ich ein Studium aufnehmen, das scheint mir das Beste zu sein. Ich weiß noch nicht, in welchem Fach. Ein bisschen Bedenkzeit bleibt mir noch.
    Die psychiatrische Kommission hat die Nachsorgemaßnahmen für beendet erklärt. Man hält mich für gesund. Eigentlich sollte ich mich freuen, doch ohne Sie fällt mir alles so schwer. Manchmal komme ich mir vor wie tot.
    Zu Frühlingsbeginn bin ich nach Chauvigny zurückgekehrt. Ich habe Fernand nichts davon gesagt – meine Mutter, die Zone, das ist zwischen uns nach wie vor ein heikles Thema. Bei Tagesanbruch bin ich in den Zug gestiegen. Der Himmel war grau. So wirkte die Szenerie entlang der Gleise noch trostloser. Ich habe trotzdem nicht weggeschaut. Das ist meine Geschichte. Ich muss mich damit anfreunden.
    Den Weg vom Bahnhof zum Gefängnis legte ich zügig zurück. Ich hatte nicht die geringste Angst. Ich wusste genau, wo ich hinwollte und was ich zu tun hatte. Der Wärter, der sich meiner annahm, war fabrikneu und dynamisch. Er ging so schnell, dass ich auf der Allee, die zum Friedhof führte, kaum hinterherkam. Nachdem er mir das Gittertor aufgeschlossen hatte, leierte er sein Sprüchlein herunter, mit derselben mechanischen Stimme wie sein Vorgänger, wirklich genau derselben Stimme: Moïra Steiner, Allee 12 , Nummer 6820 , zwischen den Merkpfählen 57 und 58 . Dieses Mal war alles klar, verständlich, eindeutig. Ich ließ den Wärter ziehen, ohne handgreiflich zu werden, und der Wind wehte ungehindert zwischen den Stelen hindurch.
    Vermutlich bedeutet Trauerbewältigung nichts anderes als das: Man findet sich damit ab, dass die Welt unverändert weiterbesteht, obwohl sie um einen Menschen ärmer ist, der sie entscheidend geprägt hat. Man findet sich damit ab, dass die Linien nach wie vor gerade sind, die Farben nach wie vor leuchten. Man findet sich damit ab, dass man selbst überlebt hat.
    Ich habe mich auf ihr Grab gesetzt. Habe die Platte einfach mit der flachen Hand berührt. Eine schlichte Liebkosung, um ihr meine Anwesenheit mitzuteilen. Der Beton war von tiefen Rissen durchzogen. Der Name verschwand unter Flechten und Moos, die sich überall ausgebreitet hatten. Ich war nicht darauf gefasst, das Grab schon so verfallen vorzufinden.
    Ich kratzte die Flechten von der Inschrift, löste das Moos Stück für Stück ab. Dann zeichnete ich langsam die Konturen der Buchstaben und Ziffern nach, die in den Beton eingraviert waren: Moïra Steiner ( 2069–210 2 ). Dieses Leben fühlte sich unter meinen Fingern so kurz an, so unbegreiflich kurz, dass ich lieber nicht darüber nachdenken wollte.
    Ich habe lange gewartet. Ich wollte nichts überstürzen. Die Worte sind von allein gekommen, als es so weit war: Ich weiß, Mama. Was du durchgemacht hast. Was dir zugestoßen ist. Ich habe verstanden, was mit uns beiden war. Das Wesentliche habe ich verstanden. Dann habe ich hinzugefügt: Ich bin dem Elend entronnen. Du sollst wissen, dass ich dir nichts vorwerfe. Das habe ich laut gesagt, um den Wahrheitsgehalt zu prüfen. Um sicher zu sein, dass ich es auch wirklich meinte.
    Mir war durchaus bewusst, dass sie mich nicht hören konnte: Ich sprach mit einer Toten, mit dem verwesten Leichnam einer fettleibigen, völlig sedierten Frau. So wollte ich das aber nicht sehen. Wenn man sich verzweifelt nach ein wenig Frieden sehnt, stellt man sich lieber eine schlafende Mutter unter der Platte vor, mit entspannten, makellosen Zügen und einem Lächeln auf den Lippen, wie in den guten Tagen. Sonst wäre es ja nicht auszuhalten.
    Ich hatte die Lamellette dabei. Ich habe sie aus der Tasche gezogen und die Faust darum geschlossen. Eine Weile habe ich mir alles vor Augen geführt, was darauf gespeichert war, die Berichte, Zeugenaussagen, Gutachten, Notizen. Alle Personen, die einbezogen worden waren – Richter, Ärzte, Psychologen, Bankangestellte und Experten aller Art, Bürokraten und wohlanständige Bürger, sorgsam auf Pflichterfüllung bedacht, wenn sie als Belastungszeugen auftraten. Die ungeheure Zeit und Energie, die man für das Zusammentragen sämtlicher Fakten hatte aufwenden müssen. Die Akribie, die es gekostet hatte, meine Mutter Schritt für Schritt auf ihrem Weg in den Abgrund zu verfolgen. Diese Leute hatten
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