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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition)
Autoren: Philippe Claudel
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1
    Ich heiße Brodeck, und ich kann nichts dafür.
    Das möchte ich betonen. Jeder soll es wissen.
    Mich trifft keine Schuld. Als ich erfahren habe, was geschehen war, dachte ich, ich würde am liebsten nie darüber sprechen, ich wollte vergessen, was ich wusste, meine Erinnerungen einsperren wie einen Marder in einem Fangnetz. Aber die anderen haben mich gedrängt: «Du kannst schreiben», haben sie gesagt, «du hast studiert.» Ich antwortete, mein Studium sei nur kurz gewesen, ich hätte nicht einmal einen Abschluss gemacht und überhaupt alles wieder vergessen. Aber davon wollten sie nichts wissen: «Du kannst schreiben, du kennst dich aus mit Worten, du weißt, wie man sie benutzt und was man damit sagen kann. Das reicht. Wir können das nicht. Wir würden die richtigen Worte nicht finden, aber du wirst alles erzählen, dir werden sie glauben. Außerdem hast du die Schreibmaschine.»
    Die Maschine ist alt. Viele Tasten sind kaputt, und ich weiß nicht, wie ich sie reparieren kann. Sie ist launisch. Manchmal blockiert sie ohne Vorwarnung, als ob sie nicht mehr wollte. Aber das habe ich ihnen lieber nicht gesagt, denn ich wollte nicht enden wie der Andere .
    Fragen Sie mich nicht, wie er hieß, das weiß niemand. Bald hatten die Leute irgendwelche Namen für ihn gefunden, die sie in ihrem Dialekt aussprachen: Vollauge – weil seine Augen etwas hervortraten; Murmelnder – weil er wenig und wenn, dann nur leise, fast flüsternd, sprach; Mondmensch – weil er zwar hier bei uns lebte, aber doch nicht zu uns gehörte; Hergekommener – weil er nicht von hier war.
    Aber für mich war und blieb er der Andere , vielleicht weil er aus dem Nichts bei uns aufgetaucht war, vielleicht auch weil er anders war als die anderen – und das Gefühl, anders zu sein, kannte ich gut: Ja, manchmal hatte ich das Gefühl, dass er ein wenig war wie ich.
    Keiner von uns fragte ihn je nach seinem richtigen Namen, abgesehen vom Bürgermeister, der es wohl einmal versuchte; aber ich glaube nicht, dass er eine Antwort bekam. Jetzt werden wir es nie erfahren. Es ist zu spät, und wahrscheinlich ist das auch besser so. Die Wahrheit kann grausam sein, und sie fügt uns bisweilen Verletzungen zu, die nie wieder heilen, sodass wir nicht mehr weiterleben können – dabei ist es ja das, was die meisten von uns wollen: leben. Und wir wollen wenig Leid ertragen müssen. Dieser Wunsch ist nur allzu menschlich. Ich bin sicher, dass Sie nicht anders denken würden, wenn Sie den Krieg durchgemacht und gesehen hätten, was er hier bei uns angerichtet hat, was in den Monaten nach dem Krieg und besonders in den letzten Wochen passiert ist, nachdem dieser Mann aus heiterem Himmel in unser Dorf gekommen war und sich bei uns einnistete. Warum gerade in unserem Dorf? Hier oben an den Berghängen gibt es doch noch so viele andere Dörfer, die in den Wäldern hocken wie Eier in Nestern, und viele sehen unserem zum Verwechseln ähnlich. Warum also hat er sich unser Dorf ausgesucht, so einsam und abgelegen, wie es ist?
    Was ich eben beschrieben habe, den Augenblick, als sie mich auswählten, die Geschichte zu erzählen, das war vor etwa drei Monaten im Gasthaus Schloss. Kurz nach … kurz nach … Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll: das Drama, der Vorfall? Das Ereignis? Ereignis ist ein seltsam schemenhaftes, unbestimmtes Wort. Es benennt das Unbenennbare. Ja, Ereignis ist das richtige Wort.
    Es hatten sich also alle versammelt, abgesehen von ein paar alten Männern, die an ihren Öfen sitzen geblieben waren, und dem Pfarrer Peiper, der wohl in der kleinen Kirche mit den meterdicken Mauern seinen Rausch ausschlief. Das Gasthaus war wie eine große, düstere Höhle, und dicker Tabakrauch und Qualm aus dem Kamin hingen in der Luft. Die Männer waren wie betäubt, schienen aber zugleich, wie soll ich sagen, erleichtert, weil das ja doch einmal enden musste, so oder so. Wir hielten es einfach nicht mehr aus, verstehen Sie.
    Die Männer schwiegen, dabei drängten sich in dem Gasthaus doch fast vierzig Personen so dicht wie Weidenzweige in einem Reisigbesen. Sie bekamen kaum Luft, atmeten die Ausdünstungen der anderen ein, den beißenden Geruch nach Schweiß, feuchter Kleidung, ungewaschener Wolle und Leinen, gemischt mit Staub, Holz, Mist, Stroh, Bier, aber vor allem Wein. Betrunken waren sie nicht, nein, das wäre eine leichte Entschuldigung. Damit wäre alle Niedertracht vergeben. Das wäre zu einfach. Viel zu einfach. Ich will versuchen, auch das
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