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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K
Autoren: Blandine Le Callet
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gar nicht mehr absetzen wollte, nicht einmal nachts. Sie gaben mir wieder Beruhigungsmittel und setzten mir eine Glukoseinfusion. Und dann warteten sie ab.
    Ich hielt die Augen geschlossen. Ich wollte niemanden sehen. Ab und zu kamen sie, um mich zu betätscheln, die Infusion auszuwechseln, mich zu waschen oder mir Blut abzunehmen. Ich ließ sie machen, die Augen eisern geschlossen. Ich hörte sie flüstern: Armes Gör, das war nun wirklich das Letzte . Außerdem sagten sie, dass sie das nie hätten tun dürfen, dass ich noch nicht bereit war. Sie sagten: Kauffmann soll übrigens stinksauer sein.
    Das hat mich ungemein getröstet. Armes Gör . Da gab es welche, die mich bemitleideten. Die das, was man mir angetan hatte, nicht guthießen. Das war wie eine Öffnung in der Mauer, eine Lücke im System. Ich erkannte den Nutzen, den ich aus dieser Situation ziehen konnte. Ich fing an, Nervenzusammenbrüche, Angstattacken und Tränenfluten zu simulieren, so täuschend echt, dass ich am Ende selbst nicht mehr wusste, ob sie wahr oder erfunden waren.
    Sie haben nicht versucht, mich ruhigzustellen, sei es mit Spritzen oder sonstigen Mitteln. Zum ersten Mal kamen sie mir hilflos vor, peinlich berührt, wenn nicht sogar schuldbewusst. Das las ich in ihrem unsteten Blick. Das entnahm ich der Behutsamkeit, mit der sie mich anfassten, als bestünde ich aus einem zerbrechlichen Material, das sie keinesfalls beschädigen wollten. Soll ich Ihnen mal etwas verraten? Schuldgefühle sind das einzig Wahre. Sorgen Sie dafür, dass sich die anderen Ihnen gegenüber immer ein wenig schuldig fühlen, und Sie werden von ihnen alles bekommen, was Sie wollen.
    Als sie mir mit samtweicher Stimme mitteilten, dass ich das Krankenquartier bald verlassen könnte, habe ich panisch aufgeschrien:
    »Ich will nicht in mein Zimmer zurück!«
    »Nein? Aber warum denn?«
    »Weil die anderen zu nah sind! Ich will nicht dorthin zurück! Ich habe Angst!«
    »Na hör mal …«
    »Ich will nicht zurück. Bitte! Bringen Sie mich von den anderen weg!«
    Sie wechselten bestürzte Blicke. Mit dieser Komplikation hatten sie nicht gerechnet. Aber sie haben nicht nein gesagt. Um die Sache zu besiegeln, habe ich ein paar vollkommen aufrichtige Tränen vergossen und die Finger verbogen, um meine Narben zu voller Geltung zu bringen. Kurzum, mein Part war gespielt. Nun musste ich nur noch abwarten.
    Es ging alles schneller, als ich dachte. Ein paar Tage später haben sie mich in einem abgelegenen Flügel des Hauptgebäudes untergebracht, ganz weit weg von den anderen Heimkindern. Das ist nur vorübergehend , erklärten sie. Langfristig sollte ich wieder das Kinderquartier beziehen. Aber das war mir egal: Fürs Erste hatte ich meine Ruhe, eine himmlische Ruhe, beinah so etwas wie Seelenfrieden. Außerdem wusste ich, dass die Sozialisierungsmaßnahmen für eine ganze Weile ausgesetzt waren. Ich sagte es ja schon, Schuldgefühle sind das einzig Wahre.
    Erst sehr viel später erfuhr ich – beim Lesen meiner Akte –, dass der Vorfall eine interne Ermittlung mit belastenden Ergebnissen ausgelöst hatte. Man hatte mich einem Versuch unterzogen, dessen Durchführung durch und durch fehlerhaft verlaufen war. Es begann damit, dass man mich nicht ordentlich vorbereitet hatte. Es kam aber noch schlimmer, denn niemand hatte das Persönlichkeitsprofil der Kinder überprüft, mit denen ich Umgang haben sollte, so unglaublich das auch scheinen mag. Ein einziges Fiasko. Daraufhin sind ein paar Köpfe gerollt: Ein Psychiater und zwei Therapeuten wurden aufgrund schwerwiegender Fehler entlassen. Geschah ihnen recht.
    Bis heute träume ich manchmal von diesem Angriff. Das Gesicht des Mädchens. Ihr Mund, der bösartige Blick. Der schwere Körper, der mich erdrückt. Die Finger, die mich befummeln. Hast du’s schon gemacht? In meiner Akte ist auch von ihr die Rede. Sie hieß Bianca und stammte aus der Zone. Sie war erst vier, als man sie in einem illegalen Show-Schuppen aufgelesen hatte, zusammen mit sechs anderen, etwa gleichaltrigen Kindern.
    Ein paar Wochen lang haben sie mich in Ruhe gelassen. Sie wollten mich auf keinen Fall vor den Kopf stoßen. Das habe ich weidlich ausgenutzt: das Essen kaum angerührt, Reha-Stunden ausfallen lassen, weil ich angeblich zu erschöpft war. Die meiste Zeit verbrachte ich in meinem Zimmer, unter dem Bett. Ich konnte mich einfach nicht von der Stille lösen.
    Und dann kam nach und nach alles wieder ins Lot – ich meine, von ihrer Perspektive aus
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