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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K
Autoren: Blandine Le Callet
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waren kaputte Kinder. Er wusste, wie man sie wieder heil machen und auf die Beine stellen konnte, und so vollbrachte er wahre Wunder, denn die meisten dieser Kinder galten als unrettbar verloren. Darum war Monsieur Kauffmann so berühmt und geachtet: weil ihm das glückte, was allen anderen misslang.
    Trotzdem hatte seine Ernennung zum Leiter des Zentralheims einige Wellen geschlagen. Nicht alle schätzten seinen Stil. Er war tatsächlich ein Original. Eine starke, wohlbeleibte Persönlichkeit, ein bunter Vogel. Er passte nicht so recht zu diesen verklemmten Erbsenzählern, die der Kommission angehörten. Und er provozierte tatsächlich gern. Früher oder später musste es so enden.
    Sie kennen mich, ich bin misstrauisch. Das liegt in der menschlichen Natur. Sie sorgt immer wieder für Überraschungen, meistens unangenehme, wie ich finde, und so bleibe ich lieber auf der Hut. Bei Monsieur Kauffmann habe ich allerdings eine Ausnahme gemacht. Ich habe ihm auf Anhieb Vertrauen geschenkt, ohne zu zögern. Er war so anders, das hat mir wohl gefallen. Die farbenfrohe Kleidung, der lächelnde Blick, das Erscheinungsbild eines gutmütigen Menschenfressers.
    Als er zu mir sagte: Guten Tag, Lila, ich bin Monsieur Kauffmann, der Heimleiter , antwortete ich wie aus der Pistole geschossen:
    »Ich weiß. Ich habe Ihr Foto im zweiten Stock gesehen, in dem langen Flur, neben den Fotos der ehemaligen Leiter.«
    »Ach ja. Mein hochoffizielles Porträt, das hatte ich ganz vergessen. Übrigens gar nicht so schlecht getroffen, was meinst du?«
    »Stimmt, das Bild ist gut. Aber es zeigt nicht, wie dick Sie in Wirklichkeit sind.«
    Er hat schallend gelacht.
    »Ich weiß schon! Mein Arzt bläut es mir bei jeder Untersuchung ein, und meine Versicherung lässt mich dafür teuer bezahlen!«
    Dann hat er sich mit seinen zwei riesigen Händen über den runden Bauch gestrichen, der von einer extravaganten Weste mit silbernen Stickereien umspannt war. Ich musste lächeln. Der Mann gefiel mir, im Ernst. Als er mich fragte, ob ich sein außerordentliches Protokoll befolgen wollte – eine Lehrmethode, die er eigens für mich entworfen hatte –, sagte ich sofort zu. Ich war mir sicher, dass wir uns gut verstehen würden. Manchmal hat man diese Art von Gewissheit. Ich bereue nichts.
    Später haben einige behauptet, man hätte mich ihm niemals überlassen dürfen, er habe mir sehr geschadet. Sogar Fernand hat in dieses Horn geblasen: Ich mochte ihn sehr, weiß Gott, aber für dich war das nun wirklich das Letzte! Alle sind dieser Meinung. In gewisser Hinsicht haben sie recht. Ohne Monsieur Kauffmann hätte ich bestimmt ein leichteres Leben gehabt. Ich wäre für die Zukunft besser gewappnet gewesen. Das weiß ich, aber das ändert gar nichts: Ich bereue keine Sekunde der wunderbaren Jahre, die ich unter seinen Fittichen verbracht habe. Und ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass mir nichts Besseres hätte passieren können, egal, was die anderen sagen.
    Jeden Morgen kam er mich besuchen, eine Stunde lang, manchmal zwei. Wir sprachen über alles und nichts, vor allem er. Ich sagte nicht viel. Ich hörte mir lieber seine Geschichten an. Er konnte aus dem Stegreif erzählen, einfach so, ich warf ihm drei Stichworte hin, um ihn herauszufordern, und dann hörte ich ihm mit nie nachlassendem Vergnügen zu. Er hatte eine ganz eigentümliche Ausdrucksweise, benutzte viele unbekannte Wörter, entsetzliche Flüche und seltsame Wendungen. Oft machte er sich einen Spaß daraus, verschiedene Sprachen zu mischen – er beherrschte ein gutes Dutzend Fremdsprachen und war darauf sehr stolz. Natürlich verstand ich nicht alles. Er sagte: Das macht nichts , und er hatte recht, denn das Wesentliche blieb immer hängen. Wenn Monsieur Kauffmann mir seine Geschichten erzählte, waren meine Schmerzen, mein Kummer wie weggeblasen. Zuweilen vergaß ich sogar, wo ich mich befand – da sehen Sie, wie herrlich das war.
    Manchmal brachte er sein Cello mit, um mir Musik vorzuspielen, lauter Stücke, die mir schier das Herz zerrissen. Normalerweise habe ich für Musik nicht viel übrig. Ich finde, es gibt nichts Schöneres als Stille. Bei Monsieur Kauffmann jedoch war es anders: Der tiefe Klang seines Instruments glitt mir fließend ins Ohr, ohne es jemals zu reizen. Dann drang er langsam zur Brust vor. Ich fühlte die Wärme. Das Vibrato. Und obwohl es so traurig, manchmal sogar zum Weinen war, spürte ich im Grunde meines Herzens, dass es mir guttat.
    Es ging bergauf mit
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