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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K
Autoren: Blandine Le Callet
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Wendungen, Sprichwörtern, Redensarten, derben Flüchen und unflätigen Schimpfwörtern. Ich fühlte mich wie neugeboren.
    Anfang September legte Monsieur Kauffmann der Kommission den zweiten Rechenschaftsbericht über seine Lehrtätigkeit vor. Inzwischen arbeiteten wir bereits achtzehn Monate zusammen, und wir waren sehr stolz auf das Ergebnis. Es fiel mir immer leichter, mich auszudrücken. Die Worte kamen mir wie von allein über die Lippen. Mit den Gefühlen sprossen auch die Gedichte in meinem Geist, sogar mehrsprachig, denn Monsieur Kauffmann legte großen Wert darauf, dass ich Fremdsprachen beherrschte.
    Dieses Mal löste sein Bericht zwiespältige Reaktionen aus. Auch wenn sie meine unverkennbaren Fortschritte anerkannten, waren die Engstirner der Ansicht, dass es dem Unterrichtsprogramm gewissermaßen an Kohärenz mangele und dass es zuweilen sogar durch und durch unangemessen erscheine. Was einfach nur hieß, dass diese Korinthenkacker die schmutzigen Ausdrücke, die Flüche, die altgriechischen und lateinischen Einsprengsel und alle anderen bunten Phantastereien nicht so richtig verdauen konnten, mit denen Monsieur Kauffmann seinen Stoff so gern würzte. Das alles sei nicht dazu angetan, meine Sozialisierung voranzutreiben , urteilten sie. Ich war fast zehn Jahre alt. Je mehr Zeit verstrich, desto problematischer wurde meine Zurückgezogenheit. Sie zeigten sich überrascht, dass Monsieur Kauffmann die Sache nicht entschiedener anpackte.
    Es hat ihm nicht gepasst, dass man sein Protokoll in Frage stellte. Aber er nahm es hin – damals war er noch zu Kompromissen fähig. Er räumte ein, dass er aufgrund seiner Sprachverliebtheit möglicherweise über das Lernziel hinausgeschossen war, und verpflichtete sich, mit mir künftig nur noch eine lupenreine und überaus gewählte Sprache zu pflegen. Kurzum, er hielt sich bedeckt und leistete Abbitte. Die anderen haben sich davon wohl kaum täuschen lassen, aber sie haben ihm dieses Mea culpa dennoch hoch angerechnet. Vor allem, weil Monsieur Kauffmann ihnen zur Beschwichtigung ein weiteres Zugeständnis machte, auf das ich liebend gern verzichtet hätte.
    Eines Nachmittags traf ich ihn nach meiner Reha-Stunde vor der Tür.
    »Was machen Sie denn hier?«
    »Ich wollte mit dir spazieren gehen.«
    »Spazieren? Meinen Sie hier … im Heim?«
    »Na klar, ich begleite dich einfach zu deinem Zimmer zurück. Einverstanden?«
    »Natürlich!«
    Wie könnte ich auf ein bisschen zusätzliche Zeit mit Monsieur Kauffmann verzichten?
    Meine Freude ließ bald nach, als ich feststellte, dass er einen Weg wählte, der nicht durch die Innengänge führte, sondern in einen engen und dunklen kleinen Hof, der direkt an den großen Pausenhof grenzte. Dort war es nicht nur trostlos, sondern auch schrecklich laut, wegen der kreischenden Kinder, die hinter der Mauer spielten.
    »Warum müssen wir hier durchgehen? Das ist doch die reinste Hölle!«
    »Jetzt übertreibst du aber. Ich finde es hier sehr schön. Komm schon!«
    Ich fügte mich widerwillig. Der Streich, den er mir da spielte, gefiel mir ganz und gar nicht. Als wir mein Zimmer erreichten, sagte ich:
    »Ein echter Reinfall, dieser Spaziergang. Das hätte ich von einem Gentleman wie Ihnen nicht erwartet.«
    Lächelnd entgegnete er:
    »Tut mir aufrichtig leid, dass du so enttäuscht bist, Mädchen. Umso mehr, als der nächste Spaziergang für morgen angesetzt ist.«
    Ich wollte gerade protestieren, als er mir ins Wort fiel:
    »Keine Widerrede! Ich sag’s dir lieber gleich: Das ist nicht verhandelbar, es wurde bereits alles arrangiert. Lass uns das Thema wechseln.«
    Gelegentlich konnte er ein Machtwort sprechen.
    Das hat mich zunächst aber nicht davon abgehalten, mich auf die Hinterbeine zu stellen. Sobald wir den kleinen Hof betraten, fing ich an zu maulen und hielt mir beide Ohren zu. Monsieur Kauffmann verdrehte die Augen.
    »Meinst du nicht, dass du jetzt ein bisschen dick aufträgst? Hör auf zu jammern! Geh weiter!«
    Ich gehorchte murrend und bemühte mich, noch einen Zahn zuzulegen.
    »He, immer langsam mit den jungen Pferden!«
    Da warf ich ihm mordlustige Blicke zu, was ihn jedoch völlig kaltließ. Ich schäumte vor Wut.
    Eines Tages tat er beleidigt und sagte mir:
    »Es kränkt mich sehr, dass du unserem täglichen Spaziergang so wenig abgewinnen kannst. Es ist doch bloß eine Viertelstunde.«
    »Es ist viel mehr als eine Viertelstunde.«
    »Zwanzig Minuten.«
    »Wenn man schnell geht. Aber Sie zwingen mich ja, langsam
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