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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K
Autoren: Blandine Le Callet
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tut manchmal gut, das Bild, das man vor Augen hat, ungestraft in Stücke zu schlagen. Ich war glücklich, vor allem war ich sehr bewegt: Es war das erste Mal, dass ich ein Geschenk bekam. Bisher hatte ich noch nie etwas besessen, was mir wirklich gehörte. Oder vielleicht früher, aber da war ich mir nicht so sicher.
    Und so haben wir die Geschichten, die Musik, die Gespräche nach Belieben fortgesetzt. Mit der Zeit fing ich an, selbst ein bisschen zu reden, Fragen zu stellen, meinen Senf dazuzugeben. Das hat sich einfach so ergeben, ich weiß auch nicht, warum. Natürlich war ich nun älter, und ich hatte mich vollkommen an ihn gewöhnt.
    Monsieur Kauffmann interessierte sich sehr für das, was ich fühlte und dachte. Jedes Mal fragte er mich: Wie geht es dir heute? Wie findest du dieses Stück? Gefällt dir diese Farbe? Niemand hatte mir je solche Fragen gestellt, und so war ich zunächst verblüfft. Ich versuchte zu antworten, mehr schlecht als recht, denn es ist nicht gerade leicht, seine Gedanken zu schildern, seine Gefühle zu bekennen. Als kehrte man das Innerste nach außen, kein natürlicher Vorgang. Jedenfalls nicht für mich. Die Sache wurde noch dadurch erschwert, dass ich nicht die richtigen Worte fand. Sie fehlten mir, weil ich viel zu spät sprechen gelernt hatte und mein Wortschatz begrenzt blieb. Die Folgen waren verheerend. Es kam sehr oft vor, dass ich mittendrin verstummte, weil mir die Begriffe ausgegangen waren, und dann war ich gezwungen, alles für mich zu behalten, in mir gefangen, ohne Aussicht auf Befreiung. Das brachte mich in Rage, manchmal musste ich sogar weinen.
    Monsieur Kauffmann sagte: Keine Sorge, Mädchen, das kriegen wir auch noch gebacken. Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte, aber er schien sich alles genau überlegt zu haben, und dann hat er sich der Sache unverzüglich angenommen.
    Von da an hat er mir jeden Morgen Gedichte vorgetragen. Freie und gebundene Verse – er war für alles offen. Ich musste die Augen schließen, denn Monsieur Kauffmann war der Ansicht, dass man mit geschlossenen Augen besser hört. Anschließend sagte ich oft zu ihm:
    »Ich habe nicht alles verstanden.«
    »Zum Glück, Mädchen! Und jetzt lernst du das Ganze auswendig.«
    Den Nutzen erkannte ich nicht so recht, aber es schien ihm am Herzen zu liegen: Man weiß nie, eines Tages kannst du es vielleicht brauchen. Und so fügte ich mich: Jeden Tag lernte ich ein Gedicht auswendig, manchmal auch zwei. Das kostete mich nicht die geringste Mühe. Ich konnte mir alles merken. Ich habe schon immer diese Fähigkeit gehabt, mich wie ein Schwamm mit allem Möglichen vollzusaugen.
    Monatelang hat Monsieur Kauffmann mich unaufhörlich mit Wörtern gefüttert. Ich ließ es zu, ohne zu begreifen, wohin mich das führte. Ich hatte nicht den Eindruck, Fortschritte zu machen – es fiel mir immer noch so schwer, mich auszudrücken. Du darfst nicht aufgeben , sagte Monsieur Kauffmann. Manchmal dauert es eben … aber es wird schon klappen. Du vertraust mir doch? Ich antwortete zwar, selbstverständlich , aber im Grunde war ich mir nicht sicher. Mach mit den Gedichten weiter, Lila. Glaub mir, du wirst bald merken, wozu sie gut sind. Du wirst es spüren. Auch hier sollte er recht behalten.
    Eines Tages, als ich auf dem Dach stand und an meine Mutter dachte, während ich dem Regen zusah, der auf die Stadt niederfiel, ist mir plötzlich ein Gedicht in den Sinn gekommen. Es handelte von Traurigkeit, und es war perfekt – damit meine ich, es passte perfekt zu diesem Moment: zum Regen, meiner Traurigkeit, der Stadt zu meinen Füßen. Das passierte mir zum ersten Mal.
    Ich bin zur Dachkante vorgegangen. Ich habe gesagt: Hör zu, Mama: Es weint in meinem Herzen, wie’s regnet auf die Stadt. Als ob die Worte mir gehörten. Als ob das ganze Gedicht mir gehörte. Als ob ich es gerade ersonnen hätte. Ich habe es sehr langsam vor mich hingeflüstert, mehrmals, für meine Mutter, wo auch immer sie sich befinden mochte. Danach fühlte ich mich schon besser.
    Zu Monsieur Kauffmann habe ich gesagt:
    »Ich glaube, jetzt habe ich begriffen, was das mit den Gedichten soll. Sie hatten recht.«
    Lächelnd hat er geantwortet:
    »Ich wusste es, Mädchen. Ich war mir ganz sicher.«
    Und dann haben wir uns erst recht mit dem Wortschatz beschäftigt. Nun, da mein Bewusstsein geweckt war, lernte ich noch mehr, bunt durcheinander, ohne lange zu überlegen. Verse und Prosa in Hülle und Fülle, endlose Listen mit verschnörkelten
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