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Die Vergessenen

Die Vergessenen

Titel: Die Vergessenen
Autoren: Bastei Lübbe
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PROLOG
Drei Jahre vor der Rebellion (Solstand 2434)
    Die Plastik ruhte auf einem Felsen, der zwar, wie Chanter wusste, weit von den nördlichen Gebirgen des Kontinents entfernt war, aber trotzdem die Spitze eines Berges darstellte, der in der von Trikonussen erzeugten Erdschicht des Planeten Masada vergraben lag. Nachdem er die Bildschirmdarstellung noch einen Augenblick länger betrachtet hatte, wandte er sich den übrigen vor ihm arrangierten Displays zu und überprüfte so einiges. Sein Erd-Uboot war an die Oberfläche gekommen und hatte dabei eine Wurzelstockmatte wie einen Schild über sich hochgedrückt, sodass es für die Laserstellungen der Theokratie, die aus dem Orbit herabblickten, nahezu unsichtbar sein musste. Trotzdem achtete Chanter darauf, dass außerdem der Chamäleonwareschild funktionierte und sich bis auf den Felsen erstreckte, sodass sein Ausstieg aus dem Fahrzeug verborgen bleiben müsste. Nur durch solche Vorsicht in allen Einzelheiten war es Chanter gelungen, sich schon seit so vielen Jahrzehnten vor den Augen der Theokratie zu verbergen.
    Er drehte den Sitz, stemmte dann den massigen amphibienadaptierten Körper daraus hoch und latschte zur Tür an der Bootsflanke, wobei er mit den großen Schwimmhautfüßen klatschende Geräusche auf dem Deck erzeugte. Neben der Tür nahm er die Wurzelschere vom Ständer und schaltete sie ein. Das Ding sah ähnlich wie ein Zahnseidenhalter aus; der Griff endete in einem bogenförmigen Aufsatz, über den eine Monofaser gespannt war, die jetzt mit hoher Frequenz vibrierte.
    Mit einem dumpfen Klopfen öffnete sich die Tür, kam ein Stückweit auf Chanter zu und glitt dann seitlich in das Reinigungsfach. Zwangsläufig quollen ihm nun Schlamm und Stücke von Flötengras-Wurzelstöcken entgegen. Mitten in diesen Knäueln purzelte auch ein Nest grüner Fadenwürmer herein und schlängelte sich sogleich nass auseinander, sodass sich Chanter die Zeit nahm, nach einem Probenbeutel zu greifen und die Würmer hineinzustopfen. Spare in der Zeit, so hast du in der Not – nicht umsonst hatte er den eigenen Körper für die hiesige Umwelt adaptieren lassen, und hier bot sich ein Mittagessen.
    Die Wurzelstockmatte hing über dem Ausstieg wie ein Laubengang, der beinahe unter der Last von Schlingpflanzen zusammenbrach, aber nach nur kurzer Arbeit mit der Wurzelschere fiel das alles in den schwarzen Schlamm herab.
    Chanter stellte erst die Schere auf den Ständer zurück und stieg dann aus dem Fahrzeug. Einen Augenblick lang blieb er stehen, um tief durchzuatmen, wobei sich die Kiemenschlitze öffneten, um mehr Luft aufzunehmen und somit das bisschen Sauerstoff zu gewinnen, das darin enthalten war. Er hob die rechte Schwimmhauthand vors Gesicht und betrachtete die Plastik durch die durchscheinende Haut zwischen Zeige- und Mittelfinger, aber das Infrarotbild vermittelte ihm keine Daten, die er nicht schon mit den Sensoren des Erd-Uboots gewonnen hatte. Die nächste Schwimmhaut lieferte ein Ultraviolettbild und auf diesem Wege Hinweise auf einige rätselhafte radioaktive Spuren, aber das war alles.
    Chanter seufzte, stapfte durch den Schlamm und schließlich die flachgedrückte Schicht Flötengras zum Felsen hinüber und starrte zur Plastik hinauf. Diese bestand aus geschnitzten Knochen, zusammengehalten von durch Löcher gefädelten, geflochtenen Sehnen sowie kleinen Nuten- und Zapfengelenken, mit einer Präzision zurechtgeschnitten, die normalerweise nur Maschinen leisteten. Einer der Äser dieses Planeten war zerlegt worden, sein giftiges Körperfett akribisch aus dem noch lebendenKörper entfernt und dann tatsächlich weggelegt, seitlich sauber zu einem pyramidenähnlichen chinesischen Puzzle aufgestapelt, wo es im Licht der Sonne glitzerte. Der Rest, ausgenommen Sehnen und Knochen, war verzehrt worden. Anschließend hatte das Raubtier die harten Überreste aufgenommen und diese Plastik angefertigt.
    Wie immer empfand Chanter eine Art Ehrfurcht, wenn er einen derartigen Ausdruck künstlerischen Temperaments erblickte, und obwohl die Plastik mit hoher Präzision angefertigt worden war und sich durch Symmetrie und eindeutigen Vorsatz auszeichnete, hatte er doch noch immer keine Idee, was sie darstellte. Das Ding vor ihm sah nach etwas Lebendigem aus, zeigte aber kaum noch Ähnlichkeit mit der ursprünglichen Gestalt. Soweit er sich erinnerte, ähnelte es auch nichts anderem auf diesem Planeten oder irgendeiner der übrigen Welten, die er besucht hatte. Der Künstler hatte den
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