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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang
Autoren: Günter Grass
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Günter Grass
    Im Krebsgang
    Eine Novelle
    in memoriam

Steidl 1. Auflage Februar
2002 2. Auflage Februar 2002 Buchgestaltung: Günter Grass, Klaus
Detjen, Gerhard Steidl © Steidl Verlag, Göttingen 2002
Lektorat: Helmut Frielinghaus, Daniela Hermes Recherche: Olaf Mischer
Alle Rechte vorbehalten Gesamtherstellung: Steidl, Göttingen
Printed in Germany ISBN 3-88243-800-2

    1
    »Warum erst jetzt?« sagte jemand, der
nicht ich bin. Weil Mutter mir immer wieder... Weil ich wie damals, als
der Schrei überm Wasser lag, schreien wollte, aber nicht konnte...
Weil die Wahrheit kaum mehr als drei Zeilen... Weil jetzt erst...
Noch haben die Wörter Schwierigkeiten mit mir. Jemand, der keine Ausreden mag, nagelt
    mich auf meinen Beruf fest. Schon als junger Spund
hätte ich, fix mit Worten, bei einer Springer-Zeitung volontiert,
bald gekonnt die Kurve gekriegt, später für die
»taz« Zeilen gegen Springer geschunden, mich dann als
Söldner von Nachrichtenagenturen kurz gefaßt und lange Zeit
freiberuflich all das zu Artikeln verknappt, was frisch vom Messer
gesprungen sei: Täglich Neues. Neues vom Tage.
    Mag schon sein, sagte ich. Aber nichts anderes hat
unsereins gelernt. Wenn ich jetzt beginnen muß, mich selber
abzuwickeln, wird alles, was mir schiefgegangen ist, dem Untergang
eines Schiffes eingeschrieben sein, weil nämlich, weil Mutter
damals hochschwanger, weil ich überhaupt nur zufällig lebe.
    Und schon bin ich abermals jemand zu Diensten, darf
aber vorerst von meinem bißchen Ich absehen, denn diese
Geschichte fing lange vor mir, vor mehr als hundert Jahren an, und zwar
in der mecklenburgischen Residenzstadt Schwerin, die sich zwischen
sieben Seen erstreckt, mit der Schelfstadt und einem vieltürmigen
Schloß auf Postkarten ausgewiesen ist und über die Kriege
hinweg äußerlich heil blieb.
    Anfangs glaubte ich nicht, daß ein von der
Geschichte längst abgehaktes Provinznest irgendwen, außer
Touristen, anlocken könnte, doch dann wurde der Ausgangsort meiner
Story plötzlich im Internet aktuell. Ein Namenloser gab mit Daten,
Straßennamen und Schulzeugnissen personenbezogene Auskunft,
wollte für einen Vergangenheitskrämer wie mich unbedingt eine
Fundgrube aufdecken.
    Bereits als die Dinger auf den Markt kamen, habe
ich mir einen Mac mit Modem angeschafft. Mein Beruf verlangt diesen
Abruf weltweit vagabundierender Informationen.
Lernte leidlich, mit meinem Computer umzugehen. Bald waren mir
Wörter wie Browser und Hyperlink nicht mehr böhmisch. Holte
Infos für den Gebrauch oder zum Wegschmeißen per Mausklick
rein, begann aus Laune oder Langeweile von einem Chatroom zum anderen
zu hüpfen und auf die blödeste Junk-Mail zu reagieren, war
auch kurz auf zwei, drei Pornosites und stieß nach ziellosem
Surfen schließlich auf Homepages, in denen sogenannte
Vorgestrige, aber auch frischgebackene Jungnazis ihren Stumpfsinn auf
Haßseiten abließen. Und plötzlich
- mit einem Schiffsnamen als Suchwort - hatte ich die richtige Adresse
angeklickt: »www. blutzeuge.de«. In gotischen Lettern
klopfte eine »Kameradschaft Schwerin« markige Sprüche.
Lauter nachträgliches Zeug. Mehr zum Lachen als zum Kotzen.
Seitdem steht fest, wessen Blut zeugen soll. Aber noch weiß ich
nicht, ob, wie gelernt, erst das eine, dann das andere und danach
dieser oder jener Lebenslauf abgespult werden soll oder ob ich der Zeit
eher schrägläufig in die Quere kommen muß, etwa nach
Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend
vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen. Nur soviel ist
sicher: Die Natur oder genauer gesagt die Ostsee hat zu all dem, was
hier zu berichten sein wird, schon vor länger als einem halben
Jahrhundert ihr Ja und Amen gesagt.
Zuerst ist jemand dran, dessen Grabstein zertrümmert wurde. Nach
Schulabschluß - mittlere Reife - begann seine Banklehre, die er
unauffällig beendete. Nichts davon fand sich im Internet. Dort
wurde nur auf eigens ihm gewidmeter Website der 1895 in Schwerin
geborene Wilhelm Gustloff als »Blutzeuge« gefeiert. So
fehlten Hinweise auf den angegriffenen Kehlkopf, sein chronisches
Lungenleiden, das ihn hinderte, im Ersten Weltkrieg tapfer zu sein.
Während Hans Castorp, ein junger Mann aus hanseatischem Haus, auf
Geheiß seines Erfinders den Zauberberg verlassen mußte, um
auf Seite 994 des gleichnamigen Romans in Flandern als
Kriegsfreiwilliger zu fallen oder ins literarische Ungefähr zu
entkommen, schickte die Schweriner Lebensversicherungsbank ihren
tüchtigen
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